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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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schien abzuklingen. Er schluckte ein paar Mal und holte lautlos Luft. Dann hob er den Kopf und blickte mit unendlicher Traurigkeit in jedes einzelne Gesicht.
    Conrad war überzeugt, Eike würde sich, wie immer, wenn er von oben zurückkam, auf seine Matratze legen, unter der Wolldecke verschwinden und keinen Laut von sich geben, bis das Licht ausging. Danach herrschte sowieso völlige Stille.
    Doch als wollte er Conrad aus gehässigem Trotz Lügen strafen, stieß Eike sich von der geschlossenen Badtür ab und baute sich vor dem Tisch auf.
    »Mich bringt niemand um!«, brüllte er, lauter als zuvor. »Ich bin ein Kind, ich hab ein Recht aufs Leben. Und wenn ihr zu feige dazu seid, schneidet euch doch ein Loch in den Kopf. Feig sein ist Scheiße, wenn man so jung ist wie ich. Kapierst du das nicht?«
    Niemand wusste, wen er meinte.
    Vielleicht, dachte Sophia, meinte er sich selbst.
    Voll sprühender Spucke explodierten die Worte in seinem Mund. All das auf Leben und Tod Verbotene hallte durch den Raum und wütete in den Köpfen der Zuhörer wie ein Echo.
    Nach einer Weile hielt auch Sophia sich die Ohren zu. Doch ihre Neugier und ihr fassungsloses Staunen überwältigten sie, genau wie die beiden Jungen, die Eike mit ihren Blicken auf Schritt und Tritt verfolgten, fasziniert von seinem gewaltigen Mut.
    In allen Einzelheiten schleuderte Eike seine Erlebnisse aus sich heraus. Er brüllte, flüsterte, raunte, krakelte, wimmerte, schluchzte und trieb seine Stimme zu immer neuen Variationen an.
    Und auch wenn Leon und Conrad manches wiedererkannten, erschienen den beiden Jungen Eikes Schilderungen wie unglaubwürdige Übertreibungen. Als sie sich einen Blick zuwarfen, glaubten sie, die Gedanken des anderen zu erraten, und nickten verschwörerisch. Dann wandten sie sich mit neuer Furcht dem Spuk vor ihren Augen zu.
    Woher Eike den Atem und die Kraft nahm, war ein Rätsel. Unaufhörlich stolzierte, sprang, stakste, tänzelte er auf dem engen Raum im Kreis, vor und zurück, unbeeindruckt von den geröteten, schreckensstarren Gesichtern und dem monströsen Schweigen um sich herum.
    Er schraubte sich in eine Erzählung hinein, der er nicht gewachsen war und die ihn gnadenlos mitriss. Sogar das Aussehen der zwei Männer und der Frau beschrieb er und das, was sie taten und wie sie es taten. Und er schrie, er wisse, warum sie es taten.
    »Weil sie uns lieben!«
    Hustend ging Eike in die Knie. Und noch während er hustete, redete er weiter, in sich hinein, zwischen seinen Händen hindurch, die er sich vor den Mund hielt.
    Nach Meinung von Sophia hatte Eike jede Kontrolle über sich verloren. Vielleicht hatten sie ihm Drogen eingeflößt und er war verrückt geworden. Vielleicht hatte der Mann ihn nur aus dem einen Grund nach unten zurückgebracht, damit Eike vor den anderen drauflosquatschte und sie deshalb das Recht hätten, ihn zu töten wie einen tollwütigen Hund.
    Wie unter Zwang musste Sophia an den Satz von einem der Männer denken, wonach die Frau Eike für Abschaum und ein zu altes Kind halte. Über diese Formulierung hätte sie gern nachgedacht, wenn sie im selben Moment nicht zum üblichen Gehorsam gezwungen worden wäre.
    Sie war so tief in ihren Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkte, wie Eike plötzlich direkt vor ihr auftauchte und sich zu ihr hinunterbeugte. »Scheiße, hast du blöde grüne Augen.« Er starrte sie an, fuhr herum und rief zur Kamera über der Eisentür: »Das muss alles so sein. Prost, Arschgeigen.«
    Daraufhin schilderte er den Wänden, den Matratzen, den Gesichtern, was sie mit ihm angestellt hatten, wenn er ungehorsam war. Und wie die Frau sich ihm gegenüber verhalten und welche Kleidung sie getragen hatte. Er ließ nichts aus.
    Bevor er mit der Beschreibung der Zimmer und der Einrichtung im Haus begann, lehnte er sich keuchend an die Badezimmertür und verstummte vorübergehend. Die Arme hingen an ihm herunter und sein Keuchen klang wie das eines alten Mannes.
    Nachdem er in die Luft geschworen hatte, dass niemand ihn umbringen könnte, ging es weiter. Die Farbe der Teppiche im Haus beschwor Eike ebenso wie die von Rollläden verdunkelten Fenster, die Betten und sonstigen Möbel.
    Conrad fragte sich, wann Eike das alles beobachtet haben könnte. Beim Abholen kriegten sie einen Sack über den Kopf, der ihnen erst wieder in dem Raum abgenommen wurde, der ihnen für den Tag zugewiesen war.
    Conrad überlegte, ob Eike die Einzelheiten erfand, weil er nicht mehr aufhören konnte zu reden. Da sah

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