Die unterirdische Sonne
Kopf. »Entschuldige, wollt dich nicht erschrecken.«
Conrad gab ein dunkles, heiseres Brummen von sich. Kurz darauf fing er an, eine Melodie zu summen, in sein Kissen hinein, nur für sich selbst. Leon fand, es hörte sich gespenstisch an. Er wollte nicht hinhören, traute sich aber auch nicht, sich die Ohren zuzuhalten, weil Conrad dann beleidigt gewesen wäre. Die Melodie erinnerte Leon an einen Film, den er einmal nachts mit seiner Mutter gesehen und bei dem er sich gefürchtet hatte, was er sich aber nicht anmerken ließ. Allerdings, das fiel ihm jetzt ein, hatte sie ihm mitten im Film den Arm um die Schulter gelegt und ihn an sich gedrückt. Vor Zufriedenheit hatte er die Augen geschlossen und für eine ziemlich lange Zeit seinen Schrecken einfach vergessen.
Dann hörte Conrad abrupt auf zu summen.
Im Kellerflur waren Schritte zu hören.
Mit einer schnellen Drehung sprang Leon vom Stuhl und kniete sich vor die Wand. Conrad kroch zu ihm, setzte sich auf seine Beine und stützte sich mit beiden Händen ab. Hinter ihnen wurde die Eisentür geöffnet. Sie hörten jemanden hektisch atmen, und ein Mann sagte: »Parieren, sonst graben wir euch lebendig ein.« Er schlug die Tür zu, verriegelte sie und ging weg.
Nach einem Moment drehten die beiden Jungen sich gleichzeitig um.
Statt ihrer Trainingshosen und den Sweatshirts trugen Maren und Sophia weiße, bis zum Boden reichende Kleider, die ihnen viel zu weit waren. Die Mädchen standen nebeneinander und hielten sich an den Händen. Weder Leon noch Conrad wussten, was sie sagen sollten. Die Mädchen sahen unverändert aus, unverletzt.
Was Leon unheimlich fand, war, dass Maren und Sophia nichts sagten und ähnlich wie Conrad bei seiner Rückkehr mit starrem Blick zur Wand schauten. Und dass sie nicht zu atmen schienen. Wie die Umhänge von Puppen hingen die Kleider an ihnen herunter. Leon sah, dass die beiden barfuß waren. Und sie machten auf ihn den Eindruck, als hätten sie noch gar nicht bemerkt, dass Conrad keine Haare mehr hatte.
Conrad schwankte. Ihm war schwindlig vor Schmerzen, aber er dachte, er müsse sich genauso zusammenreißen wie Leon.
Je länger Leon keinen Ton herausbrachte, desto schuldiger fühlte er sich. Da war kein einziges Wort in ihm, das er gebrauchen konnte. Als hätte er sämtliche Wörter ein für alle Mal vergessen.
Minuten verstrichen.
Ohne ihren Blick zu verändern, sagte Maren: »H-hallo zu-zusammen.«
»Um Gottes willen«, sagte Sophia.
Im ersten Moment wussten beide Jungen nicht, was sie meinte.
»Ist nicht so schlimm«, erwiderte Conrad mit seiner heiseren Stimme, die Leon immer noch einen Schrecken einjagte.
»Ist schon schlimm.« Sophias Stimme klang hohl, nicht mehr klar und stark wie vorher. Leon schaute sie an und blinzelte heftig, um seine Tränen zu verscheuchen.
»W-willst du zu-zuerst ins B-Bad?« Maren hatte den Kopf zu ihrer Freundin gedreht.
»Geh du.«
Im nächsten Moment riss Maren sich von Sophias Hand los, stürzte ins Bad und schloss die Tür.
Wieder verging Zeit in Stille. Sophias Blick wanderte von einem Jungen zum anderen, immer wieder.
Aus einem Grund, der ihnen seltsam erschien, standen Leon und Conrad plötzlich so eng beieinander wie vorher die Mädchen und berührten sich, wie sie, an den Schultern. Leon brachte immer noch keinen Ton über die Lippen. Conrad konzentrierte sich so sehr auf die stummen Schreie seines Körpers, dass er nichts von dem wahrnahm, was vor und neben ihm passierte. Auch als Sophia schließlich etwas sagte, reagierte er nicht.
»Sie können uns im Bad sehen.«
Alles, was Leon gelang, war ein Nicken.
»Ich hab alles falsch gemacht. Aber ich lebe noch. Und ich will auch weiterleben.«
Sie hatte noch ihre Haare und sah so aus wie immer, trotzdem war Leon sich einen Moment lang – wie vorher bei Conrad – nicht sicher, ob sie dieselbe Person war. Ihre Stimme hörte sich falsch an. Und das, was sie sagte, auch. Er öffnete den Mund. Sophia sah hin. Verzweifelt schloss er seinen Mund wieder und ließ den Kopf hängen.
»Ich soll euch ausrichten, wir bekommen heut kein Abendessen«, sagte Sophia.
Wortlos ging Conrad zu seiner Matratze, ließ sich fallen und drehte sich zur Wand, ohne sich zuzudecken.
»Geht’s dir denn gut?«, fragte Sophia Leon.
»Ja.« Seine schnelle Antwort verwirrte ihn.
»Da bin ich froh.«
Für seinen nächsten Satz brauchte er mehrere innere Anläufe. »Und wie geht’s dir und wo warst du so lang?«
Nach einem Blick zur Badezimmertür,
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