Die unterirdische Sonne
von Sekunden war sein Gesicht nass, er schluchzte mit offenem Mund. Seine Mutter streicht ihm übers Gesicht und küsst ihn auf die Stirn. Anscheinend weiß sie immer genau, wann er einen Albtraum hat, und dann kommt sie gleich in sein Zimmer und setzt sich zu ihm. Durch seinen Tränenvorhang kann er ihr Gesicht erkennen. Beim Aufwachen hält er es jedes Mal für eine Sonne, weil es so hell ist und so wirklich.
Wie lange er diesmal geweint hatte, wusste er nicht mehr. Als er sein Gesicht abgewischt und mit den Fäusten in seinen Augen gerieben hatte, lag Eike schon an seinem Platz auf der Matratze, zugedeckt bis zum Kinn, und schlief. Jedenfalls hoffte Leon, dass er schlief und nichts spürte.
»Entschuldigung«, sagte er leise. Offensichtlich hatten Conrad und Sophia ohne seine Hilfe die Matratze verschoben und Eike getragen. In der Hoffnung, dass die beiden nichts merkten, sah er sich um. Er war gerade so weit weg gewesen, dass er den Raum erst wiedererkennen musste.
»Trink einen Schluck.« Sophia hielt ihm ein Glas mit Orangensaft hin.
Er nahm das Glas und trank, es schmeckte ihm nicht. Und als hätte er in der Zwischenzeit über nichts anderes nachgedacht, sprach er aus, was er nicht loswurde.
»Müssen wir jetzt sterben, Sophia?« Dann, mit ebenso ernster Miene: »Müssen wir jetzt sterben, Conrad?«
Sophia nahm ihm das Glas aus der Hand, stellte es auf die Anrichte und tat dasselbe, was sie schon einmal mit Eike getan hatte. Ansatzlos verpasste sie Leon eine Ohrfeige. Dann packte sie sein Gesicht mit beiden Händen und küsste ihn auf den Mund, ließ ihn los, verschwand im Bad und schlug die Tür hinter sich zu.
Conrad sackte auf einen Stuhl und beugte seinen Kopf so weit nach unten, bis seine Stirn die Tischplatte berührte.
Für Leon begann, indem er einfach weiter dastand und den Brandmalen auf seinem Gesicht nachspürte, eine neue Zeitrechnung.
9
In den Tagen danach dachte Sophia oft daran, wie leicht und klein der Körper gewesen war, den sie mit Conrad zur Matratze getragen hatte. Sie wusste, Eike war erst elf, aber er hatte nie den Eindruck eines schwächlichen, unterernährten Jungen gemacht. Im Gegenteil: Mit seinem fast schwerfällig wirkenden Körper und seiner ausfallenden Sprache, die Sophia an gewisse Jungs auf Volksfesten erinnerte, erweckte Eike den Anschein eines unerschrockenen Kerls, den niemand so schnell einschüchterte.
Was mit ihm passiert war, hätte er niemals erzählen dürfen.
Seit drei Tagen war kein Erwachsener in den Keller gekommen.
Seit drei Tagen gab es kein Essen. Die Getränke waren bis auf eine halbe Flasche abgestandenes Mineralwasser aufgebraucht. Sie tranken Wasser aus dem Hahn.
Seit drei Tagen war keiner von ihnen abgeholt worden, was Conrad für ein Zeichen von Todesurteil hielt. Er war der Einzige, der stundenlang zum tonlosen Fernseher hinaufsah, ohne dass er nach jedem Tier- oder Spielfilm, jeder Serienepisode hätte sagen können, was er gerade gesehen hatte. Alles, was er sah, waren fremde Welten, Lichtjahre von seiner entfernt und in Wahrheit schon längst erloschen. In manchen Momenten streifte ein Lächeln seinen Mund, und wenn Sophia es bemerkte, war sie jedes Mal kurz davor, ihn zu fragen, was ihn amüsiere.
Sophia hatte die Aufgabe übernommen, Eike in regelmäßigen Abständen ein Glas Wasser zu bringen. Dann richtete der erschöpfte Junge sich wortlos, mit einem Wimmern, auf, griff nach dem Glas, trank und zitterte, als hätte er Eis verschluckt.
Zwei-, dreimal am Tag kroch Eike auf Händen und Knien ins Bad. Die anderen, außer Maren, gaben sich den Anschein, nicht angespannt abzuwarten, bis er zurückkam. Manchmal brauchte er fünf, manchmal fünfzehn Minuten. Sie hörten die Toilettenspülung, das Wasser im Ausguss, schlurfende Schritte, was bedeuten musste, er hatte sich aufgerichtet und versuchte, auf engstem Raum ein paar Schritte zu schaffen. Wenn die Tür wieder aufging, kniete er auf dem Boden, mit zur Klinke hin gestrecktem Arm. Auf allen Vieren und mit gesenktem Kopf kroch er zurück zu seinem Schlafplatz.
Maren sah nie richtig hin, weil sie den Anblick nicht ertrug. Eike kam ihr vor wie ihre eigene Angst, die durch ihren Körper krabbelte, die letzten Reste ihrer Stimme auffraß und sich an ihr Herz klammerte.
Von genauso einer Angst, dachte Maren, wurde auch ihre Freundin Annabel ausgehöhlt, die in einer anderen Welt lebte, ohne zu leben. Ich werd nicht wiederkommen, sagte Maren im Stillen am Tisch, mit dem Rücken zur
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