Die unterirdische Sonne
dachte er, dann wäre Sophia seine Schwester.
»Entschuldige«, sagte er leise.
Sie ließ seinen Kopf los, betrachtete ihn schweigend.
»Erzähl mir noch was von dem Seelöwen«, sagte sie.
In Leons Ohren klang ihre Stimme beinah wie früher. Außerdem spürte er noch ihre Hände an seinen Schläfen. Eine Berührung aus Luft, die trotzdem echt war.
»Leute sind gekommen und haben ihm was zu essen gebracht, Fisch und so.« Leon war sich ganz sicher, dass ihre Hände noch da waren. »Und der Seelöwe hat sich füttern lassen. Aber irgendwann ist er zurück ins Meer gerobbt und dann nicht mehr gekommen. Da waren die Menschen traurig. Sie waren ihm nicht böse wegen der kaputten Autos, sie mochten ihn, weil er so verspielt war wie ein Kind. Er hat aber einen Haufen Tonnen gewogen, ein Monstertier war das.«
»D-den F-Film h-hab ich a-auch ge-gesehen.«
Sie musste die Tür so behutsam geöffnet haben, dass nicht das kleinste Geräusch entstanden war. Sophia und Leon drehten gleichzeitig den Kopf zu ihr.
»Wie geht’s dir, Maren?«, fragte Sophia.
Maren hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Die Tür hinter ihr stand halb offen. Ihr Gesicht war gerötet und ihr Kleid verknittert, als habe sie darin geschlafen. Sie stieß einen Seufzer aus, machte einen Schritt und blieb stehen. »B-bin w-wohlauf.«
Das Wort hatte Leon noch nie gehört. Wahrscheinlich, dachte er, bedeutete es so etwas wie gesund. Er glaubte ihr nicht.
»Wo denn?«, sagte er, weil er sich über Maren ärgerte. »Wo hast du den Film angeschaut?«
»O-oben.«
Das Wort drang wie ein Pfeil in seine Ohren. Er zuckte zusammen und schämte sich sofort für seine Frage und seinen Zorn. Er wollte etwas sagen. Da hörten sie ein Geräusch und Schritte.
Hastig weckte Leon Conrad auf und zerrte ihn in die Höhe. Die Mädchen nahmen sich wieder bei der Hand und knieten sich mit dem Gesicht zur Wand, neben Conrad, der seinen Oberkörper kaum aufrecht halten konnte. Auch Maren hatte solche Schmerzen, dass sie laut schreien könnte. Mit aller Macht unterdrückte sie jeden Laut.
Draußen war eine Stimme zu hören, die sie kannten. Die Stimme hörte nicht auf zu reden.
8
Mit der Rückkehr von Eike in den Kellerraum am frühen Abend des ersten Oktober begann für die Jugendlichen ein Albtraum, dessen Bilder sie nicht weniger verwundeten wie jener, dem sie bei den Erwachsenen ausgesetzt waren. Der Auslöser war, dass Eike, nachdem er sich in verwirrende, abseitige Geschichten aus seinem Leben hineingeschraubt hatte, alle Regeln außer Kraft setzte und Dinge beschwor, die niemand hören wollte. Nicht einmal er selbst. Doch der bösartige Hund, der aus ihm herausbrach, riss alles in Stücke, was er zu fassen bekam, und sein grauenvolles Bellen war nichts als Eikes dünne, versehrte Stimme, die nach den Tagen im oberen Stockwerk noch übrig geblieben war.
Mit dem, was passierte, hätte keiner von ihnen gerechnet.
Jeder von ihnen hatte mindestens einmal den Vorsatz, aufzuspringen, Eike zu packen, niederzuringen und ihn so lange festzuhalten, bis er verstummte oder vor Erschöpfung aufgab.
Niemand traute sich.
Wie Zuschauer saßen sie am Tisch, an ihre Angst gekettet und unfähig, auch nur ein Wort von sich zu geben.
Nur Maren warf gelegentlich einen flüchtigen Blick zur Kamera über der Eisentür und zum Türschloss und rechnete mit etwas, das noch schlimmer wäre als alles Bisherige.
Währenddessen sprang Eike durch den Raum, manchmal abwechselnd auf dem einen Bein, dann auf dem anderen. Er ließ sich gegen die Wand fallen, schlug mit der flachen Hand dagegen, warf den Kopf hin und her und verdrehte die Augen. Was immer sie ihm eingeflößt hatten, es wirkte fürchterlich und verwandelte den geschundenen Körper des Elfjährigen in eine außer Kontrolle geratene mechanische Tierpuppe.
Wenn er schrie, verschluckte er sich, und seine Stimme brach ab.
Wenn er – übergangslos und die Hände als Trichter neben dem Mund – zu flüstern begann, gehörte seine Stimme einem fremden Wesen.
Wenn er Dinge aussprach, die ihm in den vergangenen Wochen widerfahren waren, duckten sich die anderen, und Maren hielt sich die Ohren zu.
Ein einziges Mal verharrte Eike vor der Badezimmertür. Mitten im Satz ließ er die Arme fallen. Mit hängenden Schultern stand er da und keuchte, sah niemanden an, nur auf seine nackten Füße. Seine schwarze Trainingshose war verrutscht, sein graues Sweatshirt voller dunkler Schweißflecken. Das Beben in seinem Körper
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