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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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er, dass Eike sich zur Tür drehte, kurz innehielt und mit der flachen Hand gegen das Eisen schlug.
    »Icke Eike!«, schrie er. »Kapiert? Ich bin so blöde, ich hab gedacht, mein Alter bringt mir was mit aus Berlin. Ein Scheißmitbringsel. Wie meine bescheuerte Oma sagt: Hast du ein Mitbringsel für mich? Icke oder wer? Hab keins. Und ich bin so blöde –
    Und mein Alter fährt gegen einen Baum. Und meine Mutter: Heul. Und Linus: Was für ein Mist. Und ich: Halt die Klappe, Arschloch. Er haut mir gegen den Kopf, dass ich umfall – Ruhe da oben!«
    Eike sackte auf die Knie und kippte gegen die Tür. Jetzt war nur noch sein Keuchen zu hören.
    Als er noch etwas sagte, beugten Sophia und Conrad sich gleichzeitig vor. Maren hielt sich immer noch die Ohren zu, hatte aber trotzdem den einen oder anderen Satz verstanden. Leon hatte die Hände im Schoß gefaltet, sein Kopf neigte sich unaufhörlich von einer Seite zur andern.
    »Hab gedacht, er bringt ein Bringsel mit.«
    Mit erhobenen Armen, beide Hände flach an die Tür gepresst, kauerte Eike reglos auf dem Boden.
    »Nichts. Dafür kriegt er den Tod. Und vor dem Boss hab ich keine Angst mehr, schon lang nicht mehr. Das erste, was ich mach, wenn ich wieder ins Dorf komm, ist, dass ich ihn abknall. Und dann meinen Bruder. Und dann meinen Opa, der eh bloß noch halb lebt, und dann meine Oma, die kein Mensch mehr kapiert. Und wenn meine Mutter nicht grad auftaucht, verschon ich sie. Die kann nichts dafür. Hab immer gedacht, sie wär schuld. Ist sie nicht. War alles nicht ihre Schuld, was passiert ist. Sie macht das Uhrengeschäft und ich –
    – Und ich fahr nach Berlin und mach da irgendwas. Ich könnt auf den Bau gehen, die bauen da dauernd was. Super, Icke. Auf geht’s. Raus hier. Ist alles so tot –
    – Wir sehen uns, Leute. Okay?«
    Wie in Zeitlupe kippte sein Körper zur Seite und blieb reglos liegen. Ob Eike noch atmete, war vom Tisch aus nicht zu erkennen.
    Sophia war die Einzige, die sich traute, ihn zu berühren. Die anderen standen hinter ihr und warteten ab. Jeder kam sich dabei schäbig vor.
    Immer wieder bildeten sie sich ein, Eikes Stimme zu hören, obwohl er seit mindestens einer halben Stunde keinen Laut mehr von sich gab. Kein Keuchen, kein Röcheln, kein Schnaufen, kein Rasseln, kein Schnarchen. Niemand wusste, ob er schlief oder vor ihren Augen einfach gestorben war.
    Seine Stimme hörte aber nicht auf. Als würde der Beton sie ausspucken, die Eisentür, die Luft.
    Weil sie es nicht mehr aushielt, drückte Maren die Handflächen auf ihre Ohren und sah Conrad an. Er nickte ihr zu, was sie ein wenig beruhigte. Leon, der mit offenem Mund schnaufte, krümmte sich die ganze Zeit und hätte Sophia gern gefragt, was sie spürte. Sie kniete neben dem reglosen Körper, ihre rechte Hand ruhte in Eikes Nacken, mit der linken strich sie über seine Wange, wie sie es bei Leon getan hatte.
    Auch Leon befand sich in einem Zustand tiefer Verwirrung. Er hatte das Gefühl, als wäre er innerhalb von einer Stunde zwei Jahre älter geworden, oder sogar drei. Jedenfalls kam er sich nicht jünger vor als Conrad und viel erwachsener als Maren, deren Alter er nicht mehr wusste. Für all das hatte er keine Erklärung. Keinen Beweis. Trotzdem war er überzeugt, dass er sich nicht täuschte. Zumindest bildete er sich diese Überzeugung fest ein, und wenn jemand ihn danach fragen sollte, würde er es genau so erzählen.
    Niemand stellte eine Frage.
    Jeder schwieg alles in sich hinein.
    Noch etwas beschäftigte Leon unbändig. Und wenn er es geschafft hätte, seinen offenen Mund mit Worten zu füllen und eine Frage zu formulieren, hätte er erfahren, dass Conrad dieselben Gedanken quälten.
    Nach Eikes Verstummen und nachdem sie alle aufgestanden waren, um zur Tür zu gehen, hatte Leon den Raum als noch enger empfunden. Noch verschlossener, noch unterirdischer, noch auswegloser. Eike hatte daran keine Schuld, das war klar, und doch hätte Eike niemals so reagieren dürfen. Er hatte sie verraten und jetzt waren sie für allezeit verloren. Von nun an würde jeder Tag grausamer sein als der vorige und am Ende aller Tage würde jeder von ihnen so durchdrehen wie Eike. Und sterben.
    »Ich will nicht sterben«, flüsterte Leon.
    Die anderen sahen ihn an. Maren nahm die Hände von den Ohren. »H-hab n-nicht g-gehört, was d-du ges-gesagt h-ast.«
    Leon presste die Lippen aufeinander.
    »Was ist mit ihm?« Auf einmal fand auch Conrad seine verrutschte Stimme wieder. Trotz seiner

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