Die unterirdische Sonne
hinter der kein Geräusch zu hören war, strich Sophia Leon über die Wange und griff nach seiner Hand, die genauso kalt war wie ihre.
»Ich bin im Paradies gewesen«, sagte sie. »Im Lande Kusch.«
Schon wieder begriff er nicht, wovon sie sprach. Er hätte sich gern an den Tisch gesetzt und vielleicht ferngesehen. Er war so froh, dass Sophia und Maren wieder da waren, schaffte es aber nicht, das zu sagen. Etwas hatte sich böse verändert. Auch wenn die Mädchen keine Verletzungen hatten – zumindest nicht im Gesicht und an den Händen – und andere Kleider trugen, traute er dem Anblick nicht. Und obwohl die Kleider, wenn er sich nicht täuschte, sogar ein wenig nach frischer Wäsche rochen, glaubte er nicht, dass sie neu und sauber waren.
Das war eigentlich das Schlimmste für ihn: Dass er die ganze Zeit den Eindruck hatte, die Mädchen spielten ihm etwas vor. Sie haben sich verkleidet, dachte er, und tun so, als kämen sie aus den Ferien, und jeden Tag hätte die Sonne geschienen.
Aber – und das hatte er genau gesehen und sich nicht eingebildet – in ihren Augen schien überhaupt keine Sonne. Sophias Augen waren weniger grün als früher, fast farblos, und Marens Augen waren nicht mehr braun, sondern grau.
Was mit ihnen geschehen sein mochte, konnte Leon sich nicht im Geringsten vorstellen. Er wusste, was sie mit ihm machten, und Conrad hatten sie die Haare vom Kopf geschnitten, so dass er aussah wie ein Soldat aus einem amerikanischen Film.
»Wieso denn?«, fragte er laut.
»Bitte?« Sophia sah ihn verwundert an. Dann lächelte sie, was ihm unecht vorkam. Welchen Grund sollte sie haben zu lächeln? Er hatte jedenfalls keinen. Dass er etwas gesagt hatte, war ihm immer noch nicht klar. In seinem Kopf herrschte ein Gedankenverhau.
»Was meinst du damit, Leon?«
Er hörte seinen Namen und fragte sich plötzlich, was an ihm alles anders geworden war und wieso niemand ihn darauf ansprach?
Mit einem Mal schwankte er. Er spürte Sophias eisige Hand und wollte sie drücken. Ihm fehlte die Kraft dazu. Seine Finger waren wie eingefroren.
»Ist dir schlecht, Leon?«
Er kam nicht dazu, eine Antwort zu geben. »Sollen wir uns an den Tisch setzen?«, fragte Sophia.
Abwesend schüttelte er den Kopf.
»Ich bin ja wieder da.«
»Ja«, sagte sein Mund. Leon hob den Kopf. Bevor er kapierte, was geschah, lehnte Sophia ihre Stirn an seine, griff nach seinen Händen und hielt sie fest.
»Bleib so«, flüsterte Sophia.
Was sonst hätte er tun sollen? Vor ihm drehte sich alles. Oder trieben ihn bloß seine Gedanken im Kreis herum? Ohne den Kopf zu bewegen, versuchte er, einen Blick auf Conrads Matratze zu werfen. Conrad schien zu schlafen.
Dann bewegte Leon die Augen nach links, in Richtung Badezimmer. Die Tür war geschlossen, kein Laut zu hören.
Flüstern war verboten, dachte er.
Ruckartig beugte er den Kopf nach hinten. »Wie war’s im Paradies?«, fragte er, aus Panik und weil er laut sein musste.
Sophias Lächeln war schneller vorbei, als er einmal blinzeln konnte.
»Schön war’s«, sagte sie. »Ich hab viele Bäume gesehen und Flüsse, und mich hat keine Schlange gebissen.«
»Was für eine Schlange?« Er sah ihr in die Augen und wollte das grasgrüne Grün wiederhaben, das ihn immer so ruhig gemacht hatte.
»Die böse Schlange. Weißt du?«
Er wusste es nicht und sagte: »Weiß schon. Und was noch?«
»So vieles.«
»Hab dich nicht verstanden«, sagte er mit ernster Miene.
Sie hob ihre Stimme. »Viel Schönes. Hast du auch was Schönes erlebt?«
Er ließ Sophias Hände los, obwohl er es nicht wollte. Sophia sah zur Badezimmertür. Während Leon redete, änderte sie ihre Haltung nicht.
»Ich hab sauber gemacht. Und im Fernsehen einen Film von einem Seelöwen gesehen, der auf Autos gesprungen ist. Die haben ihn geärgert. Er ist an Land gerobbt und hat sie kaputt gemacht, lustig war das.«
Sophias Kopf fuhr herum. »Hast du gelacht?«
»Was?«
»Ob du gelacht hast.«
»Worüber denn?«
»Über den Seelöwen.«
»Weiß nicht mehr.« Leon schunkelte mit dem Kopf. »Das war in Australien, glaub ich. Das war ein riesiger …«
Sophia packte seinen Kopf mit beiden Händen und hielt ihn fest. »Hör auf. Hör einfach auf, Leon.«
Womit soll ich aufhören, dachte er, und: Sie hat angefangen! Von ihren Händen drang ein kalter Wind in seinen Kopf, der ihn zuerst erschreckte und nach einigen Sekunden in einen Zustand unglaublicher Vertrautheit versetzte. Wenn Philip Lahm sein Bruder wäre,
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