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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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haben.
    Die Vorstellung vom Totsein entfachte einen rötlichen Schimmer auf ihrem Gesicht. Keine Schläge mehr, keine Männer. Kein Unterricht mehr, keine Angst vorm Durchfallen. Keine Lügen mehr, keine Traurigkeit. Kein Alleinsein.
    Das alles dachte sie an diesem späten Freitagnachmittag, an dem die Zeit keine Rolle spielte. Zu Annabel aber sagte sie weiterhin: Du wirst aus dem Bett aufstehen, ganz gewiss, und Henrik wartet schon auf dich. Er nimmt dich mit ins Café Stroh und spendiert dir den besten Latte der Welt und dazu einen Schokomuffin, bei dem dir vor Genuss die Zunge schmilzt. Ich seh euch am Fenster stehen, wie immer, und dein Bruder hat den Arm um deine Schulter gelegt und ist stolz auf dich, weil du so stark bist, stärker als ein Auto. So wird es sein, und ich werde so glücklich sein wie du. Glaub mir, Annabel, fang bloß nicht an zu heulen. Das ist mir jetzt so rausgerutscht, entschuldige, ich hab nichts Bestimmtes damit gemeint, ehrlich. Ich meinte, du sollst nicht heulen, weil du wieder sprechen und rumlaufen kannst und nicht länger in einem Sarg eingesperrt bist. Das hab ich gemeint, sonst nichts.
    Als sie Leon einen Blick zuwarf, fegte er die Spielfiguren vom Spielbrett auf den Boden, mit einer abwesenden Geste, wie gelangweilt. Maren betrachtete das Holzbrett und wusste in diesem Moment, wie sie es machen würde. Eine Zeit lang war sie zornig gewesen, weil ihr nicht die richtige Methode einfiel, so sehr sie sich auch anstrengte und den Kellerraum mehrmals innerlich auf den Kopf stellte. Jetzt war alles klar.
    Sie würde das alte Mensch-ärgere-dich-Brett, das tatsächlich noch aus Holz war, ins Bad mitnehmen und dort zerbrechen. In der Dusche das Wasser aufdrehen, sich auf den Boden setzen, eines der scharfen, abgebrochenen Holzteile wie ein Messer in die Hand nehmen, die linke Pulsader aufschlitzen, dann blitzschnell das Messer wechseln und die rechte Pulsader aufschlitzen. Der Rest passierte von allein. Bis jemand etwas bemerkte, war sie schon tot und gerettet.
    »So einfach geht das«, sagte sie unvermittelt zu Conrad.
    Der Sechzehnjährige saß, den Kopf im Nacken, auf seinem Stuhl und schien zu schlafen. Der Fernseher lief tonlos und zeigte einen Zeichentrickfilm. Als Maren wieder zum Tisch schaute, streckte Leon ihr die Zunge raus.
    Heute Morgen dachte Conrad an das neue Computerspiel, das sein Freund Marvin gerade installiert hatte. In dem starb in einem Land im Osten die Bevölkerung durch einen grausamen Virus, und die meisten Überlebenden wurden in Zombies verwandelt. Wenn man sich geschickt verhielt, die richtigen Verbündeten fand, keiner Krankheit oder den hinterhältigen Zombies zum Opfer fiel, bestand die Chance, mit dem Leben davonzukommen. Gegen Schmerzen gab es Painkiller, behauptete Marvin, und wer nicht regelmäßig etwas aß und trank, wurde krank und starb. Wie im echten Leben, sagte Marvin, der ein Meister in Survivalspielen war.
    Den Namen des neuen Spiels hatte Conrad vergessen, und gerade weil er wusste, dass er es niemals mehr spielen würde, ärgerte er sich darüber, dass auch seine Erinnerung daran unzuverlässig geworden war. So wie in seinen Träumen, die er oft als seine einzigen wahren Verbündeten empfunden hatte, klafften auch in seinen Erinnerungen riesige Löcher. Da waren keine Bilder mehr, keine Gesichter, Stimmen oder Landschaften. Alles nur noch öde und leer, eine graue, grausame Wüste, kälter als jedes tote Land im fernen Osten. In Marvins Welt brannten wenigstens noch Lagerfeuer, jeden Morgen begann ein neuer Tag – wie in echt –, und nachts war es dunkel und still. Vielleicht war es auch nur dunkel und doppelt gefährlich, doch ganz bestimmt würde am Ende der Nacht der Morgen dämmern und die Zukunft beginnen.
    Sogar wenn man sterben musste, weil die Zombies cleverer waren oder man seine Wunden nicht mehr heilen konnte, war man nicht für immer tot. Bloß für eine Weile, und man verlor seine Ausrüstung.
    Das war nicht wie in echt, und das war auch richtig so, dachte Conrad.
    Er saß da, mit geschlossenen Augen, den Kopf im Nacken, erschöpft vom Betrachten eines scheinbar immer schneller rasenden Zeichentrickfilms. Wenn die letzten Fetzen dieser sich ständig überschlagenden, explodierenden, von einem Ort zum anderen hetzenden Geschichte in einem schwarzen Nichts verschwunden waren, dachte Conrad, würde auch er sich in Luft auflösen.
    Endlich brauchte er keine Träume mehr zum Fliegen und Unterwegssein, er war am Ziel. Auf seine Weise

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