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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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hatte er die Zerstörung, den Horror, die Angst überlebt. Sie hatten ihn nicht besiegt, er war ihnen zuvorgekommen.
    Anders als sein Vater, den die Verletzungen gezwungen hatten, seine Träume vom Fußballspieler zu verbrennen, würde er seine Zukunft eigenhändig begraben, ohne Reue und Furcht. Worauf die Monster im oberen Stock ihr verseuchtes Gehirn verwetten konnten!
    Er begann zu summen, die Arme vor der Brust verschränkt, mit weit geöffneten Augen. Er sah zur grauen Betondecke hinauf, zum Himmel, der ihn schon erwartete, und dachte an seinen Vater. Seltsam: Sehen konnte er ihn nicht, auch seine Stimme hörte er nicht, und trotzdem war er da. Er spürte seine Nähe wie einen Atem in der Finsternis und hörte, wie sein Vater mit beschwörender Stimme zu ihm sagte: Geh, denk nicht nach, mach den ersten Schritt und zeig ihnen, was du meinst.
    Ein Schauer überzog seinen geschorenen Kopf. Er legte beide Hände auf seine Schädeldecke und bemerkte, dass Maren und Leon ihn beobachteten. In ihren erschöpften Blicken glaubte er die Verzweiflung wiederzuerkennen, die er von seiner Ma kannte.
    Gegenüber seinem Vater hatte sie sich niemals etwas anmerken lassen. Conrad fragte sich, ob er trotz seiner eigenen Probleme ihre Sorgen und Nöte je wahrgenommen hatte. Auch mit ihrem Sohn hatte sie selten über die Dinge geredet, die sie bedrückten. Aber einmal – sie hatte zwei Gläser Wein getrunken und war schon den ganzen Tag über nervös gewesen – brach die Anspannung aus ihr heraus. Was sie sagte, erschreckte Conrad so sehr, dass er zuerst meinte, sie wäre einfach nur betrunken. Sie meinte es ernst. Ihr Albtraum sei – und ihre Stimme bebte vor zorniger Ohnmacht –, dass Conrads Vater den Frust nicht länger ertrage und sich etwas antue, »und zwar etwas, das man nicht tut.« Natürlich hatte Conrad sofort den Sinn ihrer Worte verstanden und beteuerte, sein Vater sei ein Kämpfer und ein kluger Mann, der auch Niederlagen akzeptieren könne. Conrad kam sich sehr erwachsen vor, als er das sagte. Tatsächlich beruhigte sich seine Mutter wieder und später erwähnte sie das Thema nie wieder.
    Jetzt, an diesem Abend im Keller, war Conrad sich nicht mehr sicher, ob sein Vater in der schweren Zeit nicht doch an Selbstmord gedacht hatte. Manchmal, erinnerte sich Conrad, wirkte der Blick seines Vaters wie erloschen, seine Gesten unendlich schwerfällig, sein Auftreten todmüde. Vielleicht hatte Conrad ihn damals bloß nicht so sehen wollen. Vielleicht hatte sein Vater nur keine Idee, wie er es anstellen sollte. Vielleicht hatte er einfach nicht den Mut dazu.
    Conrad machte ihm keinen Vorwurf. Und er hoffte, sein Vater würde ihm einmal seine eigene Entscheidung nicht übel nehmen. Es musste sein. Da war kein Ausweg mehr. Keine frische Nahrung, kein Lagerfeuer, das noch brannte. Die beiden Brotscheiben lagen seit ungefähr einer Woche auf der Anrichte, von grüngrauem Schimmel überzogen, und zerbröselten schon. Immer, wenn im Fernsehen ein neues Programm begonnen hatte, hatte er rübergesehen und sich vorgestellt, was passieren würde – in ihm, mit ihm, am Ende.
    Diese Vorstellung hatte ihn auf eine ebenso unheimliche wie befreiende Weise beruhigt. Besser hätte dieser Tag nicht verlaufen können, dachte Conrad. Mit dem Gift des Brotes in seinem Körper würde er wie einer von Marvins Gegnern lautlos verenden. Und ein anderer würde kommen und von seiner Leiche die Trainingshose und das Sweatshirt ziehen und in sein Versteck mitnehmen, für kältere Zeiten.
    Er sah Sophia dabei zu, wie sie zur Anrichte ging, um für Eike Wasser zu holen. Sie hob das leere Glas in Conrads Richtung, und er schüttelte den Kopf. Stattdessen lächelte er sie an, was Sophia zu verwirren schien.
    Das schiefe Lächeln erinnerte Sophia an einen der Männer im Lieferwagen. Ungefähr eine Minute lang hatte der Mann ihr, nachdem sie schon gefesselt am Boden lag, in die Augen gesehen. Er trug eine schwarze Sonnenbrille und eine schwarze Wollmütze. Alles an ihm war schwarz, auch seine Hose und sein Anorak. Nur sein Gesicht hatte eine andere Farbe: grau, wie ein runder verwitterter Stein.
    Er schaute auf sie hinunter, die Hände in die Hüften gestemmt. Unverständliche Laute kamen aus ihrem mit einem Tuch geknebelten Mund. Das Tuch war in ihrem Nacken verknotet und zerrte an ihren Zähnen.
    Dass der Mann sie anglotzte, empfand sie als eine einzige widerliche Beleidigung. Die Bilder in ihrem Kopf machten sie schwindlig. Eben noch hatte sie hinter

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