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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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gewesen und hatte alles geglaubt, dachte sie und spuckte ein zweites Mal auf den Boden. Die Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes. So steht es geschrieben.
    Als würden die Wörter durch ihren Kopf spazieren und ihr winken, sprach sie die Verse lautlos nach, beinah beschwingt und mit leichtem Herzen. Die Stunde ist gekommen, aufzustehen vom Schlaf. Jetzt ist das Heil uns näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden.
    Behutsam, ohne allzu sehr auf die Schmerzen zu achten, stand sie auf. Sie legte die Hände flach auf den Bauch und ignorierte den rauen, widerlichen Stoff des Kleides, das sie ihr mit den Worten übergestülpt hatten, sie sei nun eine Büßerin. Aber nicht mehr lange. Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nah, drum lass uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Tags.
    Im Spiegel über dem Waschbecken sah sie ein weißes, fremdes Gesicht. Trotzdem erkannte sie es. Das war das Gesicht der toten Sophia, wie sie auf dem Bett lag und erlöst war. Kein Hunger mehr, keine Lust auf Apfelkuchen, umarmt vom Tod, den die ahnungslosen Kinder den lieben Gott nannten.
    Beseelt von einer tiefen Ruhe, wandte sie sich zur Tür. Als sie sie öffnete, rechnete sie damit, dass sie bereits erwartet und abgeholt wurde. Außer Leon, der vor der Wand hinter dem Tisch stand und zur Eisentür starrte, war niemand zu sehen. Die anderen lagen unter ihren Decken versteckt auf der Matratze.
    Während Sophia die Badezimmertür schloss und zu ihrem Platz ging, zeigte Leon keine Reaktion. Er presste die Lippen aufeinander, die Arme hingen an ihm herunter, und er hatte die Hände zu Fäusten geballt. Was mit ihm los war, interessierte Sophia nicht mehr. Auch hatte sie keinen Blick mehr für Eike. Sie legte sich hin, zog die Beine an den Körper und stellte sich vor, wie oben im Zimmer alles sein würde.
    Als Leon einen lauten Seufzer von sich gab, fiel ihr ein, dass sie einmal geglaubt hatte, er wäre ihr Bruder. Auch so eine Dummheit von ihr, dachte sie.
    Leon röchelte mit offenem Mund. Er hatte die Luft angehalten und gehofft, in Ohnmacht zu fallen. Und dann wollte er nicht mehr aufwachen. Das war sein Plan. Er kannte niemanden, der damit bisher Erfolg gehabt hatte, doch er wollte es weiter versuchen – so lange, bis er den Weltrekord aufstellte und tot umfiel.
    Alles, was ihm jemals Freude bereitet hatte, bedeutete ihm nichts mehr. Das war ihm bewusst geworden, kurz nachdem Sophia ihm erst eine Ohrfeige und dann einen Kuss gegeben hatte.
    Wie aus Versehen dachte er noch einmal ans Fußballspielen, an Philip Lahm, der sein Bruder gewesen war, wenn auch nur im Traum oder in einer schönen Kopfgegend. Obwohl er die anderen unter ihren Decken liegen sah, kam er sich wie der letzte Mensch vor. Außer ihm wohnte keiner auf dem Planeten, die Tür ins Weltall war eisern verschlossen.
    Angst hatte er keine mehr. Das Beste war, dass ihm immer, wenn er seither an seine Mutter dachte, ein süßer Pflaumenduft in die Nase stieg. Wenn er daraufhin die Luft anhielt, breitete sich der Duft in seinem Kopf aus und vermischte sich mit dem Geruch nach ofenfrischem Teig, von dem er oft bei seiner Großmutter gegessen hatte, bis ihm der Bauch wehtat und aufquoll, als hätte er einen Fußball verschluckt. Sein Ziel war, mit einem letzten winzigen Fetzen Pflaumenduft bewusstlos zu werden.
    Ihm dauerte das alles viel zu lang. Seit mindestens einer Stunde stand er schon vor der Wand und ballte die Fäuste, so fest er konnte, um sich beim Luftanhalten anzufeuern. Er meinte es ernst. Er war überzeugt, er könnte es schaffen.
    Dass Sophia ihn komisch angesehen hatte, war ihm nicht entgangen. Mit ihr stimmte etwas nicht, das hatte er gleich erkannt, als sie aus dem Bad kam. Aber darüber brauchte er nicht mehr nachzudenken. Da war niemand mehr, den er hätte fragen können, was in den anderen vorging.
    Nicht mehr lang, dann wäre auch er auf Nimmerwiedersehen verschwunden.
    Also lehnte er sich an die Wand, atmete tief ein, schloss die Augen und hielt, zum letzten Mal, wie er inständig hoffte, die Luft an.
    Nach einer Zeit lang spürte er aus einer fernen Zeit Marens Lippen an seinem Ohr und schwebte hinaus in die süße Finsternis.

10
    In der Stille der Nacht empfanden sie eine unbändige Freiheit. Die Mörder ihrer Kindheit waren nur noch Schemen und schon gar nicht mehr wahr.
    In den Wochen, die folgten, beschworen sie manchmal diesen Zustand, jeder für sich im Dunkeln unter der Decke. Sie wunderten sich, dass sie noch am Leben

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