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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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der Schießbude auf ihre Freundin gewartet, da sah sie den Mann auf der Straße liegen, vor einem weißen Lieferwagen. Sie ging hin, und dann sackte sie zusammen. Jemand hatte ihr von hinten auf den Kopf geschlagen.
    Als sie wieder zu sich kam, rollte sie durch den Laderaum, weil der Wagen so schnell fuhr und sie an Händen und Füßen gefesselt war und keinen Halt fand. Ihre Freundin war nicht da, das hatte sie sofort begriffen. Sie war allein und gekidnappt worden. Wozu denn?, dachte sie. Die Frage ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.
    Später erinnerte sie sich noch einmal an die Frage, weil sie, solange sie über den Grund ihrer Entführung grübelte, ihre Angst vergessen hatte. Am Anfang dachte sie an Geld und an sonst nichts. Ihre Eltern waren normale Leute, ihr Vater Angestellter bei den Stadtwerken, ihre Mutter arbeitete halbtags in einem Reisebüro, sie hatten keine Millionen auf dem Konto und kein schwarzes Geld im Ausland. Sie wohnten in einer Mietwohnung und bräuchten schon längst eine neue Spülmaschine und vor allem einen neuen Fernseher, ihrer hatte noch Röhren!
    Bei uns ist nichts zu holen, dachte Sophia immer wieder, was wollen die von mir? Sie betete nicht einmal zu Gott, wie sie es eigentlich in Momenten der Furcht sonst immer gemacht hatte. Sie bangte nicht um sich, bloß um ihre Eltern.
    Erst nachdem der Wagen angehalten hatte und der Mann in Schwarz zu ihr in den Laderaum gestiegen war und sie eine Minute lang anstarrte, begriff sie alles und versank in Todesangst.
    Hinterher, schon im Keller, verachtete sie sich für ihre dumme Naivität.
    Conrads Grimasse erinnerte sie daran, und sie sagte: »Was grinst du so?«
    »Ich grinse nicht.«
    »Schau weg. Schau fernsehen.« Sogar dieser Fernseher, dachte Sophia verächtlich, hatte keine Röhren mehr.
    »Was ist los mit dir?«, fragte Conrad.
    Darauf wollte sie nicht antworten. Sie brachte Eike das Wasserglas, doch er vergrub sich unter der Decke. Unschlüssig stellte Sophia das Glas auf den Tisch, zwischen Maren und Leon, und bevor sie befürchten musste, dass einer von ihnen etwas sagte, huschte sie ins Bad und schloss die Tür.
    Sie war allein. Das war das Einzige, was sie dachte.
    Sie setzte sich auf den zugeklappten Toilettendeckel und zog das weiße, schuppige Kleid mit beiden Händen über die Knie.
    Am Rand der Nacht, in der Stille der Nacht allein. Kein Stern, keine Stimme. Verlassen von den Menschen und von Gott.
    An ihn dachte sie als Nächstes. Nie zuvor hatte sie ihn so vergessen gehabt. Und als er ihr wieder in den Sinn kam, glaubte sie sogar eine Stimme zu hören. Woher sollte die denn kommen? Schon wieder kam sie sich dumm und naiv vor. Auf einmal erschien ihr alles, was sie gelernt hatte, wie eine monströse Lüge, von der Hubert, der Cousin ihres Vaters, immer redete, wenn er bei Familientreffen auf die Religion und Sophias Tätigkeit als Ministrantin zu sprechen kam. Hubert war jedes Mal sturzbesoffen und wollte vor allem seinen Cousin provozieren, und Sophia hatte deswegen oft demonstrativ das Zimmer verlassen.
    Was sagten die Männer oben im Haus zu ihnen? Sie würden sie lieben, sie und Maren, Conrad, Leon und den kleinen Eike. Und wie heißt es in der Bibel? Nur die Liebe schuldet ihr einander immer. Wer den andern liebt, hat das Gesetz erfüllt.
    Vornübergebeugt, die Finger um den Saum des Kleides gekrallt, spuckte Sophia auf den Boden. Sofort fiel ihr die Kamera ein. Ihr Rücken und ihre Beine zuckten beim Gedanken an die Strafe, die sie für ihre geheime Botschaft im Waschbecken erhalten hatte. Alles egal. Beim nächsten Mal würde sie darum bitten, ihr das Tuch, mit dem sie sie gewöhnlich fesselten, um den Hals zu binden, damit ihr Leiden noch echter aussah. Sie wusste, sie würden ihr die Bitte erfüllen. Sie bräuchte dann nur eine bestimmte Bewegung zu machen und ihr Genick würde brechen.
    Ihr ganzer Körper sehnte sich nach dieser einen Bewegung.
    Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
    Der betrunkene Hubert hatte recht. Gott war eine Ausrede für Menschen, die zu feige waren, einfach so zu morden. Sie brauchten ein höheres Gesetz. Hier war es.
    Wieso hatte sie das nicht früher begriffen? Hundert Mal hatte sie das weiße Messdiener-Gewand getragen, das Weihrauchfass geschwenkt und die Gebete gesprochen, die der Pfarrer ihnen vorsagte. Der gute Pfarrer Winhart mit der samtenen Stimme, der sie auf dem ehemaligen Militärgelände heimlich mit seinem großen Mercedes fahren ließ. Wieso war sie so dumm

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