Die unterirdische Sonne
seiner und Conrads Matratze hindurch kehrte sie zur Tür zurück.
»Wir sind keine Unmenschen«, sagte die Frau. »Ihr bekommt etwas zu knabbern und frische Luft wie jeden Samstag. Fünfzehn Minuten. Stell dich an die Wand, Noah, damit alle dich gleich sehen können.«
Kurz darauf verklangen ihre Schritte am Ende der Treppe.
Wie auf ein verabredetes Zeichen hin streckten Leon, Maren, Conrad und Sophia gleichzeitig die Köpfe unter ihren Decken hervor. Auf jeden von ihnen wirkte der vor der Wand stehende Junge wie ein Gespenst.
Leon wischte sich die Tränen aus den Augen und richtete sich auf. Die anderen blieben liegen, verwirrt von den Worten der Frau und der Tatsache, dass sie alle ihre Vorsätze aus der Nacht beinah vergessen hatten.
Noch bevor Leon den Neuling ausgiebig betrachten konnte, sah er, was die Frau getan hatte. Auf der Anrichte fehlte der Teller mit dem verschimmelten Brot und auf dem Tisch war das Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel verschwunden.
Dann bemerkte er den Stock.
In der rechten Hand, vom Körper halb verdeckt, hielt der Junge, dessen Name Leon nicht mehr wusste, einen blauen Gehstock, auf den er sich mit gekrümmtem Oberkörper stützte. Abgesehen von den schwarzen dünnen Haaren, die ihm schräg über die Stirn fielen, stellte er nichts als eine graue Gestalt dar. Zur grauen, schlabbrigen Trainingshose trug er ein graues, ausgewaschenes, formloses Sweatshirt und an den Füßen die gleichen grauen Wollsocken wie die anderen Jugendlichen. Aus seinem bleichen Gesicht ragte eine spitze Nase. Sein Mund schien aus zwei farblosen Strichen zu bestehen. Dagegen wirkten seine dunklen Augen, soweit Leon sie unter den Haaren erkennen konnte, groß und eindringlich, fast Furcht einflößend.
Je länger Leon ihn anschaute, desto unberechenbarer kam ihm der Junge vor. Als würde der etwas ausbrüten und dann ohne Vorwarnung mit seinem Stock zuschlagen. Wie alt mochte der Neue sein? Leon schätzte ihn auf ungefähr dreizehn.
»Wie heißt du noch mal?«, fragte Sophia plötzlich.
Wie in Zeitlupe drehte der Junge den Kopf zu ihr. Sein Mund klappte auf, aber es kam kein Ton heraus.
Jetzt richteten sich auch Conrad und die beiden Mädchen auf, wie Schutz suchend eingehüllt in ihre Decken.
»Sprichst du Deutsch?« Sophia hatte lauter gesprochen als vorher.
Der Junge schwieg. Sein Mund stand immer noch offen. Leon dachte schon, er würde, wie er selbst in der Nacht, die Luft anhalten. Doch dann zuckte der Körper unter der grauen Kleidung und der Junge klopfte mit dem Stock auf den Boden.
Maren dachte an eine Zeremonie am englischen Königshof, die sie im Fernsehen gesehen hatte. Neben ihr warf Conrad die Wolldecke auf die Matratze und stand auf, wobei er Leon die Sicht auf den Neuen versperrte.
»Noah. Ich heiß Noah. Ich bin achtzehn Jahre alt.«
»H-hallo, N-Noah«, sagte Maren leise.
Conrad machte einen Schritt zur Seite, sodass Leon wieder freie Sicht hatte. Niemals, dachte Leon, war Noah volljährig, der war doch noch ein Kind.
Nach einem allgemeinen Schweigen sagte Conrad: »Bist du schon länger im Haus?«
»Seit zwei Tagen.«
Conrad überlegte, was er ihn fragen durfte, bevor ihm einfiel, dass ihm egal war, welche Strafe auf ihn wartete. »Wie alt bist du wirklich?«
»Achtzehn.«
»Wo kommst du her?«
»Darf ich nicht sagen.«
»Sag’s trotzdem.«
»Wo kommst du her?«
»Vom Ende der Welt.«
»Ich auch. Wie heißt du?«
Conrad nannte seinen Namen, und ohne dass Noah sie dazu aufforderte, taten die anderen es auch.
»Wenn wir gehorchen, sterben wir nicht«, sagte Noah.
Er blickte in die Runde, klopfte wieder mit dem Stock auf den Boden und machte sich auf den Weg zum Bad. Er zog das linke Bein nach und ging so schief, wie er dagestanden hatte. Der blaue Stock hatte einen gebogenen Griff und eine Gummispitze am unteren Ende.
Die vier sahen Noah wortlos hinterher. Er schloss die Badezimmertür. Sie hörten, wie er sich die Hände wusch. Conrads Blick fiel auf die Anrichte.
»Das Brot ist weg. Wer hat das Brot weggenommen?«
»D-das w-war doch eh ver-verschimmelt.«
»Du hast keine Ahnung, Maren. Du weißt überhaupt nicht, was los ist. Sei still, sei hundert Jahre still.«
»L-leck mich a-am A-arsch, C-Conrad.«
»Du mich auch.«
»Ihr könnt mich alle am Arsch lecken«, sagte Sophia.
Leon dachte: Mich auch.
Conrad war so wütend darüber, dass das Brot nicht mehr da lag, dass er am liebsten ins Bad gegangen wäre und Noah, den er dafür verantwortlich machte,
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