Die unterirdische Sonne
waren, entgegen jeder Logik ihres Herzens.
Zu diesem Zeitpunkt war Eike nicht mehr bei ihnen.
Am Morgen, nachdem sie beschlossen hatten zu sterben, nahmen der Mann und die Frau Eike mit. Er kehrte nicht zurück.
Zuvor hatte die Frau, die zum ersten Mal in den Keller gekommen war, mit ihnen geredet. Sie mussten sich die Decken bis über den Kopf ziehen und durften liegen bleiben.
Die Sätze der Frau klangen wie die einer programmierten Maschine. Gelegentlich war der schwere Atem des Mannes zu hören, der wie immer die Eisentür aufgeschlossen hatte. Und gerade, als er die Jugendlichen anschreien und ihnen befehlen wollte, sich vor die Wand zu knien, schnitt die Frau ihm das Wort ab. Ihre Schritte waren neben denen des Mannes vorher nicht zu hören gewesen.
»Lass die armen Kinder, wo sie sind«, sagte sie. »Sie haben gelernt zu gehorchen und brav zu sein zu jeder Stunde. Habe ich nicht recht? Aber ich kenne euch jetzt ein Jahr lang, den einen oder anderen von euch, und ich muss gestehen, ich bin noch nicht zufrieden. Das macht nichts, denn wir haben noch viel Zeit. Ich freue mich darauf. Kinder zu haben, war immer mein Wunsch, und als ich dann welche hatte, habe ich begriffen, dass sie mir die Zeit stehlen. Diese Erkenntnis erschreckte mich anfangs. Doch dann überwog meine Hingabe, und ich beschloss, sie so zu behandeln, wie sie es verdienen.
Ihr seid widerspenstig, arrogant, kaltschnäuzig. Ihr klammert euch an etwas, das euch nicht gehört. Die Zeit. Die Kindheit. Die Jugend. Wenn es nach euch ginge, würdet ihr euch darin suhlen wie Schweine im Koben. Manche von euch versuchen das auch, dann verzweifeln die Eltern und wissen sich nicht zu wehren und ergeben sich eurer Mutwilligkeit. So etwas darf nicht passieren.
Hier, in diesem Haus, passiert so etwas auch nicht. Hier nehmt ihr niemandem die Zeit weg oder könnt so tun, als wärt ihr der Mittelpunkt des Universums. Ihr seid nichts. Weil ihr das immer noch nicht verstehen wollt, müssen wir euch so behandeln, wie wir euch behandeln. Ihr armen Kinder. Eure Tränen können mich leider nicht trösten. Sie sind zu winzig, eure Tränen, kaum zu sehen, ich sehe sie nicht, ich sehe nur eure armseligen Körper und frage mich, wie ihr mit solchen Körpern den Anspruch erheben könnt, auf der Erde zu sein. Aber den Anspruch treibe ich euch noch aus, vollständig, und dann werdet ihr mir auf Knien dafür danken.
Erst wenn ihr keinen Widerstand mehr leistet gegen uns, die einzig wahren Lehrmeister, denen ihr jemals begegnet seid, erst dann werden wir euch erlauben, noch einmal das Tageslicht zu sehen, damit ihr euch in Würde verabschieden könnt.
Ihr widert mich an.
Wann immer ich euch zu Gesicht bekomme, will ich nur eines: euch aus der Welt schaffen.«
Mehrmals glaubte Leon, der am nächsten zur Tür unter seiner Decke lag, irgendwo in der Nähe der Frau ein Scharren zu hören, ein Geräusch, das nicht von dem Mann stammen konnte. Aber er war sich nicht sicher, und es spielte keine Rolle.
Das Einzige, was zählte, waren die Sätze der Frau. Soweit Leon sie kapierte, handelten sie davon, dass sie alle bald sterben mussten. Na und, dachte er, wenn er es schon nicht schaffte, sich selbst umzubringen.
»Ich habe euch jemanden mitgebracht«, sagte die Frau. »Er wird bei euch wohnen und keine Schwierigkeiten machen. Im Gegenteil: Nehmt ihn euch zum Vorbild, lernt von ihm und macht, was er macht. Er hat schnell gelernt und begriffen, dass er nichts wert ist. Wir lieben ihn alle sehr. Mein Wunsch ist, dass ich euch alle eines Tages so lieben kann wie den kleinen Noah. Hol jetzt den anderen.«
Über Leons Gesicht rannen Tränen. Doch er war nicht gemeint. Er hörte die Schritte des Mannes, ein Rascheln und ein unterdrücktes Wimmern und wusste, dass Eike es war, den der Mann in den Kellerflur und die Treppe hinauf trug. Eike hatte keine Kraft mehr zu gehen. Leon weinte wegen ihm und nur ein wenig wegen sich selbst. Dann horchte er.
Die Frau musste noch da sein. Wahrscheinlich wartete sie darauf, dass jemand den Kopf unter der Decke hervorstreckte und bestraft werden musste.
Nichts und niemand rührte sich.
Mit größter Anstrengung versuchte Leon, nicht an die Frau in dem Zimmer oben zu denken, die diese Dinge von ihm verlangte und nun einen Meter von ihm entfernt stand und irgendetwas vorhatte.
Endlich machte sie einen Schritt, einen zweiten, einen dritten. Sie bewegte sich durch den Raum, ging zur Anrichte, da war Leon sich sicher, danach zum Tisch. Zwischen
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