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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Kinderarzt und zog in dessen Haus unweit des vorigen. Noah, den sie mitnahm, war bereits sechzehn Jahre alt, sah aber immer noch aus wie zwölf, was Ekaterina »putzelig« fand. Dank der Hilfe eines Psychologen überwand Noah seinen Schmerz über den gewaltsamen Tod seines Vaters bald. Jedenfalls war der Psychologe mit seiner Arbeit sehr zufrieden, und Noah war es mit seiner auch. Die Angst kehrte trotzdem regelmäßig zurück, wie ein Fieber, gegen das er sich nicht wappnen konnte. Doch wenn es ihn erwischte, hatte er gelernt, an das magische Wort zu denken. Das wirkte unbändig. Wie eine Droge aus reinsten Kristallen.
    Rache.
    Du stirbst, wenn du auch nur einen Ton sagst, hatte die Frau oben im Haus erklärt, und er hatte den Kopf gesenkt und sich schuldbewusst auf den Stock gestützt.
    Ein wenig neugierig auf die Geschichten der anderen war er allerdings schon – wie auf die seiner ständig wechselnden Mitbewohner in der WG . Vielleicht bräuchte er eines Tages ihre Unterstützung, auch wenn sie auf ihn nicht den Eindruck von Entschlossenheit und Überlebenswillen machten. Auf Noah wirkten sie allesamt wie erledigt. Wie sie so dahockten, ihn hilflos taxierten und ständig zur Tür starrten, als würden sie darum betteln, endlich wieder nach oben geholt zu werden.
    Je länger er in ihren Augen bloß ein verdruckstes Opfer war, umso mehr Ruhe hatte er, die notwendigen Dinge zu entwickeln.
    Mit dieser Einstellung hatte er auch die Jahre mit seinem Vater überstanden und schließlich überwunden.
    Während er so tat, als würde er im Fernsehen eine Kochsendung anschauen, musste er unwillkürlich an den Schnee in der Osterfeldstraße denken, der sich in Sekundenschnelle rot gefärbt hatte. Das konnte man zu seinem Erstaunen sogar im fahlen Licht der Straßenlampe erkennen.
    Den Hammer hatte er im Baggersee entsorgt. Das dumpfe Platschen beim Eintauchen des Eisenteils hörte er bis heute. Wenn er es hören wollte. Die Sache war vorbei.
    Natürlich, das hatte auch der Psychologe erläutert, konnte er bestimmte Erinnerungen nicht ausradieren wie eine fehlerhafte Bleistiftschrift im Schulheft. Der Psychologe meinte damit – vermutete Noah – die schönen Momente zwischen Vater und Sohn, die Wucht der Bilder von Geburtstagen, Weihnachten und solchen Anlässen, die auf diese Weise nie wiederkehren würden. All das, was sonst? Von den Ereignissen im Haus an der Osterfeldstraße hatte nie jemand erfahren. Noah fand das gut so. Das waren Sachen zwischen Vater und Sohn. Nicht einmal zwischen Mutter und Vater und Sohn, denn seine Mutter hatte jedes Mal aufgehört zu existieren, wenn sein Vater den Arm ausstreckte und zur Kellertür zeigte.
    Ganz früher hatte Noah gedacht, seine Mutter würde sich dann einfach in Luft auflösen. Das war seine Vorstellung gewesen. Wenn er dem Psychologen davon erzählt hätte, hätte der bestimmt eine kluge Erklärung dafür gefunden und die Dinge wieder ins Lot gerückt.
    Das war es, was auch sein Vater angeblich bezweckte: die Dinge zu Hause wieder ins Lot rücken. Was ein Lot war, hatte Noah nie verstanden, und er hätte den Teufel getan, es herauszufinden. Ihm genügte, was passierte. Was damit gemeint war, interessierte ihn in der fürchterlich finsteren Finsternis einen Dreck.
    Manchmal entfuhr ihm ein Seufzer, wenn er an seine Mutter dachte. Sein Vater hatte sie wegen der Bulgarin verlassen, da war Noah sieben Jahre alt gewesen. Seine Mutter hatte zwei Anwälte beauftragt, um eine ordentliche Abfindung zu kassieren. Außerdem wollte sie ihren Sohn auf ihre Seite ziehen, was kein Problem wäre, wie sie glaubte. Doch mit dem Glauben, das kannte Noah aus dem Religionsunterricht, war das so eine Sache. Ein Glaube allein reichte oft nicht aus, um in den Himmel zu kommen. Einige rechtschaffene Gläubige mussten erst den Märtyrertod sterben, bevor Gott sie zu sich nahm und erlöste.
    Als seine Mutter weinte, weil er gegenüber den Anwälten ihre Vorwürfe, sein Vater hätte sie in der Ehe betrogen und misshandelt, nicht bestätigte, kam er aus dem Staunen nicht mehr heraus.
    Bis zu diesem Moment war Noah überzeugt gewesen, seine Mutter wäre tränenlos auf die Welt gekommen. Später, nach dem Tod seines Vaters, dachte er gelegentlich, seine Mutter habe vielleicht nur in unsichtbarem Zustand eine Träne wegen ihm vergossen, während er im Keller hockte und auf eine Lungenentzündung hoffte.
    Solche Gedanken, das wusste er, dienten nur seiner Belustigung und waren nicht ernst

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