Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
Vom Netzwerk:
verprügelt hätte.
    Maren überlegte, womit sie sich die Pulsadern aufschlitzen sollte, wenn das Holzbrett nicht mehr da war, während Sophia sich nach wie vor keine Sorgen wegen ihres bevorstehenden Todes machte.
    Seit seinem Aufwachen war Leon die Lächerlichkeit seines Planes bewusst. Doch wenn er an Noah dachte, empfand er eine gewisse Zuversicht, dass dieser ihm auf irgendeine Weise dabei behilflich sein könnte, sich endlich aus der Welt zu schaffen. Er hatte keine Erklärung dafür, aber der Gedanke ermutigte ihn.
    Und als Noah aus dem Bad zurückkam, rieb Leon vor Zuversicht und Übermut die Knöchel seiner Fäuste aneinander.

11
    Die ersten Tage mit Noah vergingen ohne besondere Ereignisse. Das war beunruhigend für alle – außer anscheinend für Noah. Er aß und trank, hinkte ins Bad, sprach kein Wort. Er schlief auf Eikes Matratze und schien sich nicht im Geringsten daran zu stören, dessen gebrauchte Decke zu benutzen. Morgens brachte einer der Männer – der mit dem Schnurrbart – für jeden eine Scheibe Brot mit Erdbeermarmelade und eine Tasse lauwarme Schokolade, mittags abwechselnd Nudeln mit Ketchup, Fischstäbchen oder einen Topf Nudelsuppe, die allen – vielleicht sogar dem verschlossenen Noah – am besten schmeckte. Der Mann stellte den Topf in die Mitte des Tisches und legte fünf Plastiklöffel daneben.
    Sie aßen schweigend, immer. Conrad und Noah, der an Eikes Platz saß, an der Wand, Leon und Maren ihnen gegenüber und Sophia an der rechten Schmalseite.
    Wie seit jeher.
    Nach dem Essen schaltete Conrad den Fernseher ein, schob seinen Stuhl in die richtige Position und verfolgte zwei oder drei Stunden lang Sendungen, die ihn nicht interessierten. Auch Noah schaute zu, mit halb geschlossenen Augen, als würde er sich in einem ständigen Dämmerzustand befinden. Den Oberkörper nach links geneigt, hatte er die Hände in die Ärmel seines Sweatshirts geschoben, während er den Kopf mit den in die Stirn hängenden Haaren aufrecht hielt.
    Noah hauste in seiner eigenen Verlorenheit, doch er war nicht untätig, das schien nur so. In seinem Kopf salutierten die Gedanken vor einem namenlosen Herrscher, den Noah erschuf, seit die beiden Typen ihn nachts an der S-Bahnstation niedergeschlagen und verschleppt hatten. Und da er niemandem mehr vertraute, wollte er für sich bleiben. Wenn die Angst zurückkam, dachte er an das einzige Wort, das ihn mit ein wenig Ruhe erfüllte.
    Rache.
    Manchmal klang das Wort wie ein Befehl, der von seinem Kopf aus den ganzen Körper erfasste.
    Rache.
    Er wusste, die meisten Menschen hielten ihn für zwölf oder dreizehn. Sie glaubten, er wäre das geborene Opfer. Er war kein Opfer, auch wenn es im Moment so aussah. Er war nur still. Er horchte seinen Gedanken nach.
    Außerdem redeten die anderen auch kaum ein Wort. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er lieber allein in einem Verlies die Zeit verbracht. Darin hatte er Erfahrung.
    Allein im Dunkeln zu sitzen, beherrschte er. Seine halbe Kindheit hatte er sich darin geübt. Alles keine Herausforderung mehr.
    Die Angst störte ihn.
    Rache.
    Im Gegensatz zu den anderen Jugendlichen verschwendete er keinen Gedanken an den Umstand, dass seit sechs Tagen keiner abgeholt worden war. Obwohl der Mann regelmäßig das Essen brachte und an zwei Tagen die Tür zum Lüften eine Viertelstunde lang offen ließ.
    Niemand hatte Noah das System erklärt. Das Einzige, was die Frau zu ihm gesagt hatte, war, er dürfe über das, was er im Haus erlebte, kein Wort verlieren. Andernfalls würde er sterben.
    Ähnliche Drohungen kannte er als Kind von seinem Vater. Natürlich würde er nicht sterben. Außer an einer Lungenentzündung oder wenn er sich erhängte. Letzteres hatte er nie vorgehabt, vielleicht ein oder zwei Mal ganz am Anfang. Dann hatte er das entscheidende Wort entdeckt, und von da an hätte er allenfalls noch erfrieren können. Auch dagegen fand er eine Lösung: Liegestütze, Rumpfbeugen, Luftboxen.
    Gleichzeitig sann er über die Umsetzung des Wortes in die Tat nach. Jedes Mal und sehr intensiv. Fast sehnte er sich nach der Bestrafung und dem kreativen Alleinsein im eisigen Keller des hübschen Einfamilienhauses, in dem sein Vater seit Kurzem mit seiner zweiten Frau, einer Bulgarin, lebte.
    Für Ekaterina war der Tod ihres Mannes einige Jahre später ein Schock. Er lag erschlagen im roten Schnee, niemand hatte den Täter gesehen. Der Fall blieb unaufgeklärt.
    Nach dem Zahnarzt, Noahs Vater, wählte Ekaterina einen

Weitere Kostenlose Bücher