Die unterirdische Sonne
gemeint.
Jedenfalls war er nach der Scheidung im Haus bei seinem Vater und dessen neuer Frau geblieben. Das Geld, das seine Mutter herausschindete, reichte gerade für eine winzige Zweizimmerwohnung ohne Fußbodenheizung.
Wie hätte er sich auch anders entscheiden sollen als bei seinem Vater zu bleiben und Ekaterina als neue Mutter zu akzeptieren? Er musste die Dinge ins Lot bringen. Das wäre von seiner Mutter aus viel schwieriger, vielleicht unmöglich gewesen.
Mit siebzehn bat er schließlich seinen Ziehvater, den Kinderarzt, ihm eine Wohnung in der Stadt zu mieten. Zu diesem Zeitpunkt war sein häusliches Benehmen alles andere als putzelig und dank der Unterstützung durch Ekaterina stimmte der Arzt zu. Seither wohnte Noah in einer Vierzimmerwohnung, gemeinsam mit zwei Studenten, die im Lauf des vergangenen Jahres bereits zwei Mal gewechselt hatten.
Noah handelte nach dem Prinzip, wer sich nicht anständig benahm, flog raus. Anständig benehmen hieß: Toiletten sauber halten, Küche aufräumen, kein Lärm im Zimmer, keine Mädchenbesuche, keine Partys. Die ersten beiden Studenten, die einzogen, bezeichneten ihn nach einer Woche als Nazi. Er hatte kein Problem, auf die Schnelle zwei Nachfolger für sie zu finden.
Noah war kein Student. Er machte eine Ausbildung als Koch in einem Hotel in Bahnhofsnähe. In seinem Team arbeiteten ein ehemaliger Strafgefangener und zwei junge Frauen, die früher anschaffen gegangen und aus dem Milieu ausgestiegen waren. Von Noah wussten sie lediglich, dass sein Vater ermordet worden war. Richard, der Ex-Knasti, machte sich einen Spaß daraus, Noah als Täter zu bezeichnen und ihm zu seiner Tat zu gratulieren. Die Frauen nahmen ihn – irgendwie muttermäßig, wie er fand, auch wenn er mit dem Wort etwas völlig anderes verband – in Schutz. Von einer der beiden Frauen fühlte er sich extrem angemacht, und er nahm sich fest vor, die Sache bei nächster Gelegenheit, am besten direkt im Hotel, auszuprobieren.
Er kam nicht dazu, weil er vorher entführt wurde.
Sarina war ihr Name.
Erst gestern hatte er wieder intensiv an sie gedacht. Wie alt sie war, wusste er nicht, er schätzte sie auf Ende zwanzig. Ihren Geburtstag hatte sie ihm verschwiegen, aber sie legte Wert auf ihren Namenstag am fünften März. Und wenn er wolle, sagte sie, dürfe er ihr an diesem Tag etwas schenken, »was Kleines vom Herzen«.
Das hatte er ihr versprochen. Und was er versprach, das hielt er auch. Beispiel: sein Versprechen an die finstere Finsternis, die Sache mit seinem Vater ins Lot zu bringen.
Endlich war die dämliche Spielshow im Fernsehen zu Ende. Noah stand auf, betrachtete einen Moment lang Conrad, der weiterhin gebannt zum Fernseher glotzte, und ging ins Bad, ohne die Tür zu schließen. Als Neuling, hatte die Stotterin gesagt, habe er in dieser Woche Putzdienst. Obwohl er das Klo heute schon sauber gemacht hatte, fing er noch einmal damit an. Alles war besser als ständig mit Blicken tätowiert zu werden.
Nachdem Noah zu Ende geputzt hatte, setzte er sich an den Tisch, auf den rechten Stuhl vor der Wand. Das war, wie die Stotterin ihm erklärt hatte, der Platz eines gewissen Eike gewesen. Wie die Stotterin hieß, hatte er schon wieder vergessen. Er hatte auch nicht vor, sich ihren oder irgendeinen Namen zu merken. Sie schwiegen ihn an, also waren sie für ihn bereits gestorben.
Gestorben: ja. Unbrauchbar: nein.
Noah saß da, schaute sich um und dachte nach. Die beiden Mädchen lagen auf ihren Matratzen, zugedeckt bis zum Kopf, scheinbar schlafend. Der kleine Blonde hockte, an die Wand gelehnt, auf seiner Matratze, und Noah fragte sich, wann er in Ohnmacht fallen würde, so leichenblass, wie der aussah. Der andere Typ glotzte immer noch zum Fernseher, kratzte sich ständig am Kopf und rieb wie besessen über seine Stoppelhaare, als würden sie auf diese Weise schneller nachwachsen. Noah hörte auf hinzusehen.
Er bemitleidete sie alle ein wenig. Wie seine Mutter, die in einer Zweizimmerwohnung lebte und vermutlich wieder als Parfümverkäuferin arbeitete. Das war das Einzige, was sie gelernt hatte. Einmal hatte sie ihn gefragt, ob er glaube, sie sei eine gute Mutter.
Und er: Selbstverständlich!
Hatte sie je die Hand gegen ihn erhoben? Nein. Hatte sie ihn vernachlässigt oder lasch erzogen? Nein. Hatte sie ihm stets zu essen und zu trinken gegeben und warme Kleidung gekauft? Ja.
Selbstverständlich bist du eine gute Mutter, hatte er gesagt und war überzeugt, sie würde es glauben.
Je
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