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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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älter Noah geworden war, desto mehr leuchtete ihm die Notwendigkeit eines Glaubens ein. Jeder, den er kannte, offenbarte irgendwann irgendeinen Glauben. Beispiel: sein Vater. Der glaubte daran, dass sein Sohn im Keller wieder ins Lot kam. Sein Onkel Johann, der Bruder seines Vaters, glaubte an seine Mitgliedschaft im Golfclub, seine Mutter an sich selber. Und seine Mitgefangenen glaubten garantiert an einen gütigen Gott, der eines Morgens durch die geschlossene Eisentür kommen und mit ihnen in die ewige Freiheit entschweben würde.
    Glauben war so toll. Jahrelang hatte er dies bei seinen Eltern beobachtet und in dieser Zeit begriffen, dass es zwei Dinge im Leben auf gar keinen Fall gab: Glück und Freiheit. Wer trotzdem darauf hoffte, war ein verdammter Idiot.
    Überleben war alles, was zählte, dachte Noah. Die Umstände annehmen und schauen, was geht. Was tun, wachsam bleiben, das Unvermeidliche akzeptieren und sich nicht einbilden, da draußen warte ein spezielles Leben.
    Nach Meinung von Noah war das Leben überall gleich. Und letztlich, wenn er ehrlich war – und das war er in der Gemeinschaft der armseligen Gestalten um ihn herum – hauste jeder in seinem eigenen Keller, lebenslang, eingesperrt von jemandem, der den Schlüssel hatte. Das war alles. Es gehörte, davon war Noah mehr denn je überzeugt, zur Natur des Menschen, andere zu unterwerfen, zu quälen, schließlich zu töten, um sich einzubilden, überlebt zu haben.
    Wie sein Vater.
    Wie seine Mutter.
    Wie sein Onkel.
    Wie der Rest der Menschheit, dem er bisher begegnet war.
    Aus dem Keller zu entkommen, war wichtig, dachte Noah und stützte sich mit beiden Händen auf den geschwungenen Griff seines Gehstocks und legte das Kinn darauf. Der eine oder andere Schlüsselbesitzer musste liquidiert werden, anders war das eigene Leben nicht zu ertragen. Außerdem verschaffte man sich durch entsprechende Handlungen eine gewisse Abwechslung und stabilisierte seine Kräfte und sein Denkvermögen. Danach allerdings kamen neue Herausforderungen, neue Zwänge, neue Keller. Nichts Besonderes.
    Wieder einmal erinnerte Noah sich an den Moment seiner Entführung.
    Es war nachts, kurz nach eins, auf dem Parkplatz vor dem S-Bahnhof der Kleinstadt, wo er aufgewachsen war. Mit der Bahn brauchte er zwanzig Minuten bis nach Hause, kein Problem. Jemand trat auf ihn zu, holte aus und – Dunkel.
    Als er im Auto zu sich kam, dachte er als Allererstes, sein Vater stecke hinter dem Überfall. Dann fiel ihm ein, dass sein Vater seit zwei Jahren tot war. Stunden später – er lag gefesselt in einem Lieferwagen, der offensichtlich in einem Höllentempo über die Autobahn raste – kam er auf den Gedanken zurück. Wenn schon sein Vater nicht dahinterstecken konnte, dann vielleicht dessen Bruder.
    Noah überlegte, ob er mit einem Golfschläger k.o. geschlagen wurde. Möglich, aber sicher war er nicht. Und was sollte sein Onkel damit bezwecken? Rache? Wegen der Liquidierung seines Bruders? Die Polizei tappte im Mordfall an der Osterfeldstraße im Dunkeln, keine Zeugen, ein Familiendrama in der idyllischen Kleinstadt, alle Nachbarn erschüttert. Sogar seine Mutter hatte am Grab einige Tränen aus ihrem Kopf gekramt. Große Anteilnahme, irre Worte des Pfarrers, die Noah nie vergessen würde. Der allseits beliebte Zahnarzt und Familienvater sei einem unfassbar grausamen Verbrechen zum Opfer gefallen und so weiter. Unfassbar, dachte Noah später gelegentlich, wäre gewesen, wenn auf den Feldern statt der üblichen grünen plötzlich riesige, rote Kohlköpfe gewachsen wären. Aber ein toter Zahnarzt im Schnee … Inzwischen war ihm klar, dass niemand aus seiner Verwandtschaft ihn gekidnappt hatte, sondern gewöhnliche Verbrecher. Sie schlugen und misshandelten ihn, knipsten Fotos, drehten Filme und brachten damit vielleicht ein paar Dinge ins Lot, die ihn nichts angingen.
    Ein Keller war wie der andere, dachte Noah und klopfte mit dem Stock so heftig auf den Boden, dass Conrad vor Schreck mitsamt seinem Stuhl umkippte.
    »Tschuldigung«, sagte Noah und lachte.

12
    Am Samstag blieben die Eisentür und ein Kellerfenster für fünfzehn Minuten geöffnet. Die Jugendlichen knieten auf dem Boden, mit dem Gesicht zur Wand, außer Noah. Der hatte sich nur umgedreht, als draußen die Schritte und das Klirren des Schlüsselbundes zu hören waren. Er stand, gestützt auf seinen Stock, weiter reglos da, ohne dass der Mann ihn ermahnt hätte.
    Der traut sich was, dachte Sophia. Sie kniete neben Noah

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