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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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einen Schrei gebären, wie ihn noch niemand im Universum je gehört hatte.
    Wieder warf sie den dreien einen Blick zu und verharrte beim dünnen Leon, dessen blonde Locken aussahen, als wären sie grau geworden.
    Wenn Leon seine Haare im Spiegel sah, erschrak er und schaute weg und glaubte, er wäre in einem Traum. Jetzt war er froh, dass die Glühbirne im Bad kaputt war und das Licht vom Kellerraum nicht ausreichte, einen Opa aus ihm zu machen. Dabei hatte der einzige Opa, den er persönlich kannte, gar keine grauen Haare. Der alte Mann hatte kein einziges Haar auf dem Kopf. Seine Mutter behauptete, das käme daher, dass er sich früher die Haare zu oft gefärbt habe, oder mit den falschen Farben, das wusste Leon nicht mehr genau. Sie begegneten sich zu selten, seine Mutter hatte wenig Kontakt mit ihrem Vater. Den Vater seines Vaters hatte Leon nie kennengelernt, der lebte irgendwo im Osten, und wenn sein Vater alle Jubeljahre von ihm erzählt hatte, klang es, als läge der Osten auf der anderen Seite der Erdkugel.
    Als Leon den Kopf hob, bemerkte er Marens Blick. Eine Zeit lang schauten sie sich an. Leon dachte, dass er sich am liebsten zu ihr legen würde, weil Sophia vergessen hatte, sein Gesicht zu streicheln.
    Maren dachte, wie schön es wäre, wenn Leon sich zu ihr legen und ihre Hand halten würde, wie vorher Sophia, die niemanden mehr zu beachten schien.
    Aber Leon wandte sich wieder der Heizung zu und fragte, ob Conrad das mit Gott ernst gemeint habe.
    Conrad hielt seine Hände vor die Heizung, seine Arme zitterten und sein Gesicht war eine finstere Grimasse. Er sah Schlangen von Menschen vor sich, und die Szene wiederholte sich, wie in einem grausamen Traum, wieder und wieder.
    Die Leute pilgerten hintereinander her einen Berg hinauf, festlich gekleidet, begleitet von Glockenschlägen aus der nahen Kirche. Die Frauen beteten einen Rosenkranz, die Jungen trugen Anzüge und die Mädchen geschmückte Dirndln. Alle sahen aus wie erleuchtete Halbheilige auf dem Weg in den Himmel. Conrad verachtete ihre Untertänigkeit. Er hielt die Predigten des Pfarrers für Gerede, schon in der Grundschule. Als der Religionslehrer ihn einmal gefragt hatte, wie er sich Gott vorstelle, hatte Conrad erwidert: wie eine Vogelscheuche. Daraufhin wollte der Lehrer wissen, wie er auf diesen Blödsinn käme, und der achtjährige Conrad erklärte, dass Gott Mensch und Tier erschreckte und nichts weiter sei als ein Geist in der Landschaft. Im Gymnasium nahm er Ethik als Unterrichtsfach, doch auch andere Religionen interessierten ihn wenig. Seinen Eltern war seine Einstellung egal, solange die Noten passten.
    Wenn Conrad im Fernsehen das Ausmaß des menschlichen Elends in der Welt sah, fragte er sich, woran die Christen und all die anderen Gläubigen eigentlich glaubten. An eine bessere Welt, wenn sie erst mal tot waren? Das Paradies, dachte er, war die Wiese, auf der die Vogelscheuche stand. Und in der Wiese wuchsen vergiftete Gräser, Blumen und Kräuter, und jeder, der davon kostete, fing an zu sterben und hörte nie wieder damit auf.
    Sie hatten alle gekostet, Maren und Leon, Sophia und er, und sie hatten keine Chance zu überleben, ihr Schicksal war besiegelt. Die Vogelscheuche drehte sich im Wind. Wenn man genau hinhörte, konnte man ihr Lachen hören. Sie lachte Tränen über die Dummheit der Kinder, die, genau wie Noah erzählt hatte, nichts als elektrische Schmetterlinge waren, ferngesteuert und arm, so arm, dass sie sogar vom Sterben zehrten, weil sie nie etwas anderes besessen hatten.
    Und Sophia, dachte Conrad und sah sie an, klammerte sich an die zerrissenen Klamotten der Vogelscheuche, weil sie nie etwas anderes gelernt hatte. Man durfte ihr nicht bös deswegen sein. Sie wollte doch immer nur umarmt werden. Aber die Vogelscheuche, dachte Conrad, hatte keine Arme, sie bluffte bloß mit ihren Holzstecken und ihrer verlogenen Fratze.
    Ach, Sophia, dachte Conrad und wünschte, sie würde ihn ansehen.
    Da hob sie den Blick und sah Conrad in die Augen. »Du könntest Jesus sein«, sagte sie. »Du trägst auch unser Kreuz.«
    Drehst du durch?, dachte er und wollte ihr die Frage ins Gesicht schleudern. Er bildete sich ein, ihr Blick verbot es ihm, und er kam sich deswegen abergläubisch vor. Auch Leon war aufmerksam geworden. Maren richtete sich von ihrer Matratze auf und schwankte ein wenig, krallte die Finger in ihr zerknittertes Kleid und streckte die Arme nach dem Stuhl an der rechten Schmalseite aus, auf dem Sophia gesessen

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