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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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hatte, als sie noch zu fünft waren und Eike einer von ihnen gewesen war.
    Maren tastete nach der Lehne, stützte sich mit der anderen Hand auf dem Boden ab und unterdrückte ein Keuchen. Ihr war wieder schwindlig, sie schaffte es nicht, hochzukommen.
    Da stand Conrad auf, beugte sich zu ihr hinunter, nahm sie unter den Armen und zog sie in die Höhe. Einen Moment lang lehnte sie sich an ihn. Dann schleppte sie sich um den Tisch, vorbei am verlassenen Stuhl, und ließ sich erschöpft auf ihren alten Platz fallen. Sophia gab ihr einen Kuss auf die Wange.
    »Ich will euch etwas erzählen«, sagte Sophia. »Und danach hab ich eine Bitte an euch.«
    »Was für eine Bitte?«, fragte Leon.
    »Gleich.«
    Nach vorn gebeugt, mit übereinandergeschlagenen Beinen, hockte Leon auf seinem Stuhl und schien immer weiter in sich zu versinken. Conrad kamen die dünnen Beine des Jungen wie die abgewetzte Stange einer einbeinigen Vogelscheuche vor. Zum ersten Mal hatte er Mitleid mit ihm. Zum ersten Mal überwältigte Conrad beim Anblick der drei anderen ein Gefühl bedingungsloser Traurigkeit, stärker noch als jenes nach Eikes Verschwinden und Noahs Tod und Sophias markerschütterndem Weinkrampf.
    In diesem Augenblick gelang es Conrad, die Nähe der anderen wie seine eigene zu akzeptieren und darin zu verweilen. Ich bin da, dachte er atemlos, am selben Ort wie sie, in der gleichen Gestalt, ich bin Leon und Noel, Noah und Hoan, ich bin Maren und Sophia, ich bin die ganze Menschheit und dies ist unser Planet.
    »Das ist unser Planet«, sagte er. »Und wir sind die Sonne. Seht ihr das nicht?«
    Sie sahen ihn an und verstanden ihn nicht, aber Sophia sagte: »Als Jesus die vielen Menschen sah, stieg er auf einen Berg und setzte sich hin und seine Jünger traten zu ihm.«
    »Ja«, sagte Conrad.
    »Ja«, sagte Leon.
    »J-ja«, sagte Maren.
    »Er sagte, selig, die arm sind vor Gott«, fuhr Sophia fort. »Ihnen gehört das Himmelreich. Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden. Selig, die keine Gewalt anwenden, denn sie werden das Land erben. Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden satt werden. Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden. Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen. Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden. Selig … Weiter weiß ich nicht.«
    »Selig, die voller Zorn sind und einsam«, sagte Conrad. »Denn sie werden erlöst und umsorgt werden.«
    »W-wie Ei-Eike«, sagte Maren. »W-weil er w-wird s-sein Eis d-doch n-noch k-kriegen. S-selig s-sind d-die Eing-gesperrten, d-denn sie w-werden b-befreit w-werden.«
    »Und müssen keine elektrischen Schmetterlinge sein, wie Noah«, sagte Leon. »Selig sind die verschwundenen Kinder, denn sie werden vielleicht gefunden werden.«
    »J-ja«, sagte Maren.
    »Ja«, sagte Conrad.
    »Ihr seid das Salz der Erde«, sagte Sophia. Wieder hörte sie den Gesang in ihrem Inneren. »Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben. Man zündet auch nicht ein Licht an und stülpt ein Gefäß darüber, sondern man stellt es auf den Leuchter, dann leuchtet es allen im Haus. So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euern Vater im Himmel preisen.«
    In die Stille hinein fügte sie hinzu: »Ich möcht, dass jeder sich jetzt gründlich wäscht. Damit wir sauber und rein vor den Herrn treten und er sich nicht geniert für uns.«
    »Und wir uns auch nicht«, sagte Leon. Sophia nickte, und er sprang auf und rannte als Erster ins Bad und ließ die Tür offen, damit er im Spiegel seine Haare besser sehen konnte. Unter dem Strahl des eisigen Wassers erschauderte er, zappelte mit Armen und Beinen, rieb sich mit dem Rest Seife ein, ließ weiter Wasser auf seinen mageren Körper hageln und rubbelte sich schließlich mit dem kratzigen, muffigen Handtuch ab, das er seit mehr als einem Monat benutzte. Auch die anderen Handtücher waren nicht mehr gewechselt worden und vom Toilettenpapier war nur noch eine Rolle vorrätig. Die Luft roch abgestanden und faulig.
    Wie einen Auftrag befolgten sie Sophias Wunsch. Sie gaben sich die größte Mühe, als wären sie zu einem Fest eingeladen, auf dem sie neue Kleider trügen. Ein wenig redeten sie sich ein, ihre Sweatshirts und Trainingshosen, ihre Kleider und Unterwäsche kämen frisch aus der Reinigung und alles wäre ganz anders als in Wirklichkeit.
    Dann saßen sie wieder am

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