Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
Vom Netzwerk:
das war ein Glück.
    Wenn Leon an jenes Zimmer dachte – jede Nacht, jeden Tag, jetzt –, überkam ihn eine solche Scham, dass er sich fragte, warum er überhaupt geboren worden war. Er war überzeugt, dass er sich an einem Baum im Wald erhängen würde, sollte seine Mutter davon erfahren. Für Leon waren die Erzählungen der anderen das Grausamste, was er jemals gehört hatte, und er fand keine Worte dafür, wie sehr er ihren Mut bewunderte, das alles auszusprechen. Doch was ihn selbst betraf, so würde er sich lieber die Zunge herausschneiden lassen, als ein Wort zu viel zu sagen.
    Nach zwanzig Minuten verstummte Leon. Ohne Hass zu empfinden, ohne Tränen, kälter als ein Schneemann in der Nacht, mit Sophias Hand in seiner und den starren Blicken der anderen auf seinem Gesicht.
    »Von mir aus können sie kommen«, sagte er, leise wie zuvor.
    Sie warteten ab.
    Die Stille veränderte sich nicht. Die Temperatur sank weiter.
    Niemand kam.
    Ob es Nacht oder Tag war, wussten sie nicht. Sie saßen am Tisch, überwach vor Hunger und Durst.
    Dann sagte Sophia: »Ich bete zu dir, Herr, zur Zeit der Gnade, erhöre uns in deiner großen Huld, Gott, hilf uns in deiner Treue …«
    »Gott kannst du vergessen«, sagte Conrad.
    Maren sah ihn erschrocken an. »S-sowas d-darfst d-du nicht s-sagen.«
    »Gott ist weg«, sagte Conrad. »Der kann uns nicht helfen.«
    Leon fand, dass Conrad recht hatte, aber er schwieg.
    »Gott ist da«, sagte Sophia. »Er wartet auf uns.«
    Conrad schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte den Kopf.
    »Er sagt: Fürchtet euch nicht.«
    Nach einem ewigen Schweigen sagte Leon: »Ich fürcht mich aber.«
    »I-ich a-auch«, sagte Maren.
    Conrad nahm die Hände vom Gesicht, das grau war wie die Wand. »Wir fürchten uns alle.«
    »Fürchtet euch nicht«, sagte Sophia. »Fürchtet euch nicht. Fürchtet euch nicht. Ihr dürft euch nicht fürchten. Fürchtet euch nicht. Fürchtet …«
    Noch nie in ihrem Leben hatten Leon, Maren und Conrad einen Menschen so gottserbärmlich weinen sehen wie Sophia.

23
    Dann ging das Licht aus. Zwei Tage lang funktionierte die Heizung nicht und es gab kein warmes Wasser. Conrad schaltete den Fernseher ein, nichts passierte. Auch die Glühbirne im Bad brannte nicht mehr. Die vier Jugendlichen hatten sich in ihre Decken gehüllt, lagen auf ihren Matratzen, hofften auf Schlaf, und wenn er kam, trauten sie ihren Träumen nicht. Wie unter Zwang brachten sie sich bei, mittendrin den Schauplatz zu verlassen und aufzuwachen. Wie das ging, wussten sie nicht genau, aber sie schafften es, jeder und jede von ihnen, drei bis vier Mal in der Nacht.
    Oder war es Tag, wenn sie schliefen?
    Immer wieder dachte Conrad an den Freund seines Vaters, der beinah erfroren wäre und dabei angeblich keine Angst gehabt hatte. Die Vorstellung tröstete ihn nicht im Geringsten.
    Am dritten Tag – es war Freitag, der neunundzwanzigste November, aber sie wussten weder den Tag noch den Monat – ging das Licht unter dem blauen Lampenschirm wieder an. Die Glühbirne im Bad war offensichtlich kaputt, dafür erwärmte sich der Heizkörper. Die vier schoben ihre Matratzen in die Nähe, knieten sich davor hin, die Decken fest um den Leib geschlungen, und horchten auf Schritte.
    Manchmal stand einer von ihnen auf und trank aus dem Wasserhahn im Bad. Sie schlotterten. Ihre Mägen knurrten, doch sie machten kein Spiel mehr daraus.
    Spielen war lange vorbei.
    Maren wurde es schwindlig, sie legte sich hin, deckte sich bis zur Nase zu und sah zu den anderen. Sie überlegte, was die wohl dachten und ob sie wirklich so viel tapferer waren als sie selbst. Wenn sie Sophia oder die beiden Jungen beobachtete, bildete sie sich ein, sie würden keine Miene verziehen, wenn die Männer kämen und sie ein letztes Mal abholten. Sie würden ihnen ins Gesicht sehen und den Kopf nicht beugen, sie würden sich nicht mehr umschauen, sondern ohne jedes Anzeichen von Furcht und Bedauern den Raum verlassen, wie Helden, wie große Menschen.
    Sie selbst dagegen, dachte Maren und zog die Decke bis zu den Augen, würde schreien und sich wehren und um sich schlagen und um Hilfe flehen. Dass sie seit Tagen stumm war, lag an ihrer Müdigkeit und dem Hunger, der, so stellte sie sich vor, begonnen hatte, ihre Stimme zu fressen. In Wirklichkeit war sie gar nicht stumm. Sondern ein einziger, unvorstellbar lauter Schrei. Der quoll schon in ihrem Bauch auf, sie konnte es spüren. Und wenn die Männer sie holten, würde ihr Bauch platzen und sie

Weitere Kostenlose Bücher