Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
Vom Netzwerk:
Tisch und schnupperten und kamen sich verlorener vor als je zuvor. Jeder auf seine Weise weigerte sich, von Neuem nachzudenken. Da war nichts mehr zu entdecken, es gab keine Ausflüchte mehr, keine Schlupflöcher, keine Geschichten, keine Vergangenheit, nichts als die verlorene Gegenwart.
    Nur Leon hatte immer noch Worte übrig. »Glaubt ihr, sie beobachten uns noch?«
    Maren warf einen schnellen Blick zur Eisentür. An die Kamera hatte sie, wie die anderen, überhaupt nicht mehr gedacht. »U-und w-wenn sch-schon«, sagte sie.
    »Wenn sie uns zuschauen, wieso kommen sie dann nicht?«, fragte Conrad.
    Nach einer Zeit lang sagte Sophia: »Egal.«
    »V-vielleicht s-sind sie n-nicht m-mehr d-da.«
    Conrad, der Maren gegenüber saß, verzog das Gesicht zu der abfälligen Grimasse, die die anderen schon kannten. »Du meinst, sie lassen uns hier unten verhungern?«
    Wieder verging Zeit, dann sagte Maren: »J-ja.«
    Der Heizkörper strahlte immer noch Wärme ab. Das gelbliche, fahle Licht an der Decke brannte, es gab also noch Strom im Haus.
    »Sie sind oben«, sagte Sophia. »Sie beratschlagen, was sie tun sollen.«
    »Was sie tun sollen?« Conrad starrte wieder den Tisch an. »Das ist doch einfach: Sie bringen uns um, wie Eike und Noah. Das war von Anfang an geplant. Sie haben uns fernsehen lassen, sie haben uns zu essen und zu trinken gebracht, sie haben uns eingelullt, damit wir nicht durchdrehen. Und es ist ihnen gelungen, oder nicht?«
    Das Wort einlullen hatte Leon noch nie gehört, aber er fragte nicht nach. Er sagte: »Ich will aber nicht verhungern.«
    »I-ich a-auch n-nicht«, sagte Maren.
    »Was?« Mit einem Ruck hob Conrad den Kopf. Zwischen seinen struppig nachwachsenden Haaren zogen dunkle Adern über die Schädeldecke. »Wer will denn verhungern auf der Welt? Sei einfach still, Leon, wenn du nichts zu sagen hast. Ihr redet alle immer nur daher, als würd das irgendwas bewirken. Das bewirkt überhaupt nichts. Und jetzt haben wir alle schön geduscht, bravo, und jetzt reißen wir uns zusammen, verdammt, verdammt …«
    »A-aufhören«, sagte Maren und wollte nach Conrads Hand greifen, aber er zog sie weg. »B-bitte, n-nicht l-laut …«
    Conrad hörte ihr nicht zu. Seine Stimme schoss aus seinem Mund und überschlug sich fast. »Ich hab euch lang genug zugehört, ich mag nicht mehr. Wir kommen hier nicht mehr raus, darüber muss man doch nicht labern. Wir werden verhungern und vielleicht essen wir uns gegenseitig auf, alles ist möglich. Es war nett mit euch. Wir haben üble Dinge erlebt. Wir haben mit anschauen müssen, wie ein Junge ermordet wurde. Was wollt ihr jetzt noch? Die Märchenstunde ist vorbei. Ich weiß auch nicht, warum niemand uns gefunden hat und wieso die Leute mit uns machen können, was sie wollen, ohne dass wir auch nur einmal zurückschlagen. Noah hat’s getan und sie haben ihn gekillt. Sie haben ihn gekillt vor unseren Augen und wir haben zugesehen. Wir haben hingeschaut, was wollt ihr denn noch? Wir sind Zeugen und haben nichts getan. Wir sind die größten Feiglinge auf der Welt. Wenn wir verhungern, kümmert sich keine Sau um uns, und das ist gerecht. Das haben wir verdient, jeder von euch und ich auch. Wir haben das alles mit uns machen lassen und hocken immer noch hier. Am Tisch. Als gäb’s gleich was zu essen, Leberkäs mit Spiegelei oder Schnitzel mit Pommes. Schaut euch an: Ihr seht aus wie Ratten und ihr seid Ratten. Wir ernähren uns von unseren eigenen Kadavern, kapiert ihr das nicht? Hör auf, mich anzufassen, Maren! Hört alle auf, mich anzuschauen. Ich kann euch nicht mehr ertragen, ich will jetzt meine Ruhe, und wenn ich sterb, möcht ich, dass ihr wegschaut. Habt ihr mich verstanden, ihr Ratten? Ja? Ich will …«
    Weiter kam er nicht. Maren stieß einen Schrei aus, der so laut war, dass er an den Wänden widerhallte.
    Sie schrie aus vollem Hals, mit einer solchen Inbrunst, dass Sophia vor Schreck von ihr wegrückte und sogar Conrad den Körper nach hinten beugte.
    Marens Schreien war dreifach so laut wie Conrads Stimme, und woher sie den Atem nahm, wusste niemand. Sie schrie immer weiter, die fiebrig leuchtenden, dunkel drohenden Augen weit aufgerissen. Und auch als Sophia zwischen Leon und Conrad hindurch erschrocken zur Tür schaute, ließ Maren sich nicht irritieren.
    Erst als die beiden Jungen sich gleichzeitig zur Tür umdrehten, hörte Maren so abrupt zu schreien auf, wie sie begonnen hatte. Ihr Körper bebte. Mit einem heiseren Keuchen schnappte sie nach

Weitere Kostenlose Bücher