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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Aufforderung. Vor einer Weile hatte sie begonnen, darüber nachzudenken, was eigentlich passieren würde, wenn sie entgegen aller Befehle und Einschüchterungen die Wahrheit sagten. Oder einfach nur redeten. Wie man sich etwas erzählte, wenn man aus den Ferien zurückkehrte. Nur mit dem Unterschied, dass es sich diesmal nicht um Ferien, sondern um die Hölle handelte.
    Was würde passieren? Jetzt. Am Ende ihres Lebens. Dass sie abgeholt und getötet wurden wie Eike? Sie würden sowieso abgeholt und wie Noah im Handumdrehen getötet werden, dachte Sophia.
    Sie hatte Maren angesehen, die sich an sie drängte und ihre Hand hielt, und sich eingebildet, es ginge ihr genauso. Dass auch Maren alles sagen und die Dinge aussprechen wollte, die ihr zugestoßen waren und sie ausgehöhlt hatten wie ein Abgrund. Und Leon. Statt zu sprechen, weinte er dauernd und wurde dabei immer schmächtiger, in seinem Gesicht spiegelte sich die Furcht von Adam und Eva.
    Der Herr ist mein Hirte, betete Sophia im Stillen. Sie streckte ihre rechte Hand auf dem Tisch aus – ihre linke umklammerte Marens Hand – und sah die beiden Jungen an. Endlich legte Leon seine rechte Hand auf ihre und Conrad seine linke Hand obenauf.
    Nichts wird mir fehlen, betete Sophia wortlos, denn die vertrauten Worte sprachen von allein in ihr. Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. Er stillt mein Verlangen, er leitet mich auf rechten Pfaden, treu seinem Namen. Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil, denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht. Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde. Du salbst mein Haupt mit Öl, du füllst mir reichlich den Becher. Lauter Güte und Huld werden mir folgen mein Leben lang, und im Haus des Herrn darf ich wohnen für lange Zeit.
    »Gut«, sagte sie laut. Dann begann sie zu reden.
    Sophias Geschichte dauerte eine Stunde. Es war, als würden die Worte Funken in ihrem Mund schlagen. Die anderen hatten die Blicke gesenkt. Ab und zu drehte Leon den Kopf zur Seite und schämte sich für die Welt. Sophia wunderte sich, dass sie beim Erzählen nicht im Erdboden versank. Aber das Zuhören der anderen war wie ein Mantel, der ihre Nacktheit umgab. Mehrmals wiederholte sie ein Detail, und wenn sie – aus welchen Gründen auch immer – den Eindruck hatte, sie hätte etwas Falsches gesagt oder übertrieben, korrigierte sie sich, als wäre sie zur Objektivität verpflichtet.
    Je länger sie sprach, desto kürzer und härter kamen ihr die Sätze vor. An einigen Stellen erschien es ihr beinah lächerlich, dass sie selbst gemeint war. Sie spürte die Schmerzen wieder, die Blicke. Sie hörte das Klicken der Fotoapparate und konnte noch immer – bis zu dieser Stunde am Tisch im Kreis ihrer Verbündeten – nicht begreifen, warum Erwachsene so etwas taten und andere Erwachsene existierten, die sie beauftragten und dafür bezahlten.
    So zu denken, war naiv, das war ihr klar, aber sie dachte es trotzdem hundert und ein Mal.
    Am Ende war kein Winkel in ihr heller. Keines ihrer ausgesprochenen Worte kehrte als sanftmütiges Echo in ihre Erinnerung zurück. Sie empfand das Grauen auf die gleiche Weise wie vorher und doch hatte sich etwas verändert.
    Irgendwann während der vergangenen Stunde hatte sie bemerkt, wie die Verachtung, mit der sie sich seit ihrer Entführung selbst strafte, allmählich von ihr wich. Das irritierte sie. Nachdem sie verstummt war und ein vierfaches Schweigen den kälter gewordenen Raum erfüllte, versuchte sie, dieses eine Gefühl zu entschlüsseln.
    Da war keine Verachtung mehr für das, was sie getan oder zugelassen hatte, kein Schuldgefühl, höchstens eine Ahnung von Feigheit. Vielleicht hätte sie doch rechtzeitig aus dem Lieferwagen springen können und vorher beim Volksfest besser aufpassen sollen.
    Das war nicht mehr wichtig. Der Ekel war wichtig und dass sie ihn auf dem Weg vom ersten Wort bis zum letzten ausgespuckt hatte, in der Gemeinschaft, endlich und gerade noch rechtzeitig vor dem Tod.
    »Danke«, sagte Sophia zu Conrad. »Danke fürs Mutmachen.«
    »I-ich d-dank dir a-auch«, sagte Maren und begann mit ihrer Geschichte. Am Anfang stotterte sie nicht nur, sie verhaspelte sich und verlor den Zusammenhang. Aber sie gab nicht auf und wurde von niemandem unterbrochen. Für jeden Satz baute sie mit unbändigem Vertrauen ein Gerüst aus Buchstaben, an dem ihre Stimme, so kam es den anderen vor, mit wachsender

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