Die Unvollendete: Roman (German Edition)
dem Spiegel. Das Kleid stand ihr, entschied sie, sie hatte noch ihre gute Figur, obwohl sie schon fast dreißig war. Würde sie eines Tages Sylvies matronenhaften Umfang entwickeln? Allmählich schien es unwahrscheinlich, dass sie noch Kinder bekommen würde. Sie erinnerte sich daran, wie es gewesen war, Pamelas Babys zu halten – sie erinnerte sich auch noch an Teddy und Jimmy –, wie überwältigend die Gefühle von Liebe und Angst waren, der verzweifelte Wunsch zu beschützen. Um wie viel stärker wären diese Gefühle, wenn es ihr eigenes Kind wäre? Vielleicht zu stark, um sie zu ertragen.
Während des Nachmittagstees in John Lewis hatte Sylvie gefragt: »Brütest du nie über etwas nach?«
»Wie deine Hennen?«
»Eine ›Karrierefrau‹«, sagte Sylvie, so als hätten die beiden Wörter keinen Platz im selben Satz. »Eine alte Jungfer«, fügte sie hinzu und sinnierte über das Wort nach. Ursula fragte sich, warum sich ihre Mutter so sehr bemühte, sie zu ärgern. »Vielleicht wirst du nie heiraten«, sagte Sylvie zum Abschluss, als wäre Ursulas Leben so gut wie vorbei.
»Wäre das so schlimm? ›Die unverheiratete Tochter‹«, sagte Ursula und nahm ein glasiertes Törtchen in Angriff. »Es war gut genug für Jane Austen.«
Sie zog das Kleid über den Kopf und ging in Unterrock und Strümpfen in die kleine Küche und ließ ein Glas Wasser einlaufen, bevor sie einen Cracker suchte. Gefängniskost, dachte sie, eine gute Übung für die Zukunft. Seit dem Toast zum Frühstück hatte sie nur Pamelas Kuchen gegessen. Sie hoffte, dass sie heute Abend von Crighton zumindest zu einem guten Essen eingeladen würde. Er hatte sie gebeten, ihn im Savoy zu treffen, sie verabredeten sich selten in der Öffentlichkeit, und sie fragte sich, ob es ein Drama geben würde, oder ob der Schatten des Krieges Drama genug wäre und er mit ihr darüber reden wollte.
Sie wusste, dass morgen der Krieg erklärt würde, auch wenn sie sich bei Pammy dumm gestellt hatte. Crighton erzählte ihr alle möglichen Dinge, die er ihr nicht erzählen sollte, da sie sich beide schriftlich zur Geheimhaltung verpflichtet hatten. (Sie andererseits erzählte ihm so gut wie nichts.) In letzter Zeit hatte er wieder gewankt, und Ursula war sich überhaupt nicht sicher, in welche Richtung er fallen würde oder sie sich wünschte, dass er fiele.
Er hatte sie gebeten, ihn auf einen Drink zu treffen, eine Bitte übermittelt auf einem Zettel der Admiralität, der auf geheimnisvolle Weise aufgetaucht war, während sie sich kurz nicht im Büro aufhielt. Nicht zum ersten Mal fragte sich Ursula, wer diese Zettel überbrachte, die auf ihrem Schreibtisch lagen, als hätten Elfen sie dorthin gelegt. Ich glaube, Ihre Abteilung steht für eine Personalüberprüfung an, stand darauf. Crighton liebte Codes. Ursula hoffte, dass die Verschlüsselungen der Marine nicht so rudimentär waren wie die Crightons.
Miss Fawcett, eine ihrer Büroassistentinnen, sah den Zettel, der vor aller Augen dalag, und warf ihr einen panischen Blick zu. »Verflixt«, sagte sie. »Stimmt das? Eine Personalüberprüfung?«
»Da hat sich jemand einen Spaß erlaubt«, sagte Ursula und ärgerte sich, dass sie rot wurde. Diese schlüpfrigen (wenn nicht nachgerade anzüglichen), aber scheinbar unschuldigen Mitteilungen passten nicht zu Crighton. Ich glaube, Bleistifte sind knapp. Oder Sind Ihre Tintenvorräte aufgefüllt? Ursula wünschte, er würde Kurzschrift lernen oder sich diskret verhalten. Oder, noch besser, ganz damit aufhören.
Nachdem der Portier sie eingelassen hatte, sah sie Crighton in dem großen Foyer auf sie warten, und statt mit ihr in die American Bar zu gehen, führte er sie in eine Suite im zweiten Stock. Das Bett dominierte das Zimmer, es war riesig und mit zahllosen Kissen bedeckt. Oh, deswegen sind wir also hier, dachte sie.
Den Crêpe de Chine hatte sie als unpassend für den Anlass verworfen und trug stattdessen den königsblauen Satin – eins ihrer drei guten Kleider für den Abend –, eine Entscheidung, die sie jetzt bereute, da Crighton, wenn man dem Schein trauen durfte, es ihr ausziehen würde, statt ihr ein feudales Essen zu spendieren.
Er zog sie gern aus, sah sie gern an. »Wie ein Renoir«, sagte er, obwohl er wenig von Kunst verstand. Besser ein Renoir als ein Rubens, dachte sie. Oder ein Picasso. Er hatte ihr ein großartiges Geschenk gemacht, nämlich dass sie sich nackt betrachten konnte und kaum etwas oder gar nichts an sich auszusetzen fand.
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