Die Unvollendete: Roman (German Edition)
Jetzt fielen Blätter, zusammen mit dem Staub und der Asche der Toten, und plötzlich war sie von einem Berg zerbrechlicher Buchenblätter bedeckt. Sie dufteten nach Pilzen und Lagerfeuer und etwas Süßem. Mrs. Glovers Pfefferkuchen. Es roch so viel angenehmer als Abwasser und Gas.
»Kommen Sie, Mädchen«, sagte der Mann. »Na los, Susie, schlafen Sie mir jetzt nicht ein.« Er hielt ihre Hand fester, aber Ursula sah etwas, was sich im Sonnenlicht drehte und aufblitzte. Ein Kaninchen? Nein, ein Hase. Ein silberner Hase, der sich langsam vor ihren Augen drehte. Es war hypnotisierend. Es war das Hübscheste, was sie jemals gesehen hatte.
Sie flog von einem Dach in die Nacht. Sie war auf einem Getreidefeld, und die Sonne brannte herab. Sie pflückte Himbeeren am Rand des Weges. Spielte Verstecken mit Teddy. Sie ist ein komisches kleines Ding, sagte jemand. Doch bestimmt nicht der Luftschutzhelfer? Und dann fiel Schnee. Der Nachthimmel war nicht mehr über ihr, sondern um sie herum wie ein warmes dunkles Meer.
Sie schwebte in die Verdunkelung. Sie wollte dem Mann etwas sagen. Danke. Aber es war nicht mehr wichtig. Nichts war noch wichtig. Es war dunkel geworden.
Morgen wird ein schöner Tag
2. September 1939
R eg dich nicht auf, Pammy«, sagte Harold. »Warum ist es so still, was hast du mit den Jungs gemacht?«
»Ich habe sie verkauft«, sagte Pamela und wurde wieder munter. »Drei zum Preis von zwei.«
»Du solltest über Nacht bleiben, Ursula«, sagte Harold freundlich. »Du solltest morgen nicht allein sein. Es wird ein schrecklicher Tag werden. Anweisung des Arztes.«
»Danke«, sagte Ursula. »Aber ich habe schon was vor.«
Sie probierte das gelbe Nachmittagskleid aus Crêpe de Chine an, das sie früher am Tag in einem Vorkriegskaufrausch in der Kensington High Street gekauft hatte. Der Crêpe de Chine war gemustert – winzige schwarze Schwalben im Flug. Sie bewunderte es oder vielmehr sich selbst oder das, was sie von sich im Spiegel der Frisierkommode sah, da sie sich aufs Bett stellen musste, um ihre untere Hälfte in Augenschein zu nehmen.
Durch die dünnen Wände in der Argyll Road hörte sie, wie Mrs. Appleyard auf Englisch mit einem Mann stritt – mit dem geheimnisvollen Mr. Appleyard vermutlich –, dessen Kommen und Gehen zu jeder Tages- und Nachtzeit keinem erkennbaren Zeitplan folgte. Ursula war ihm einmal persönlich auf der Treppe begegnet, und er hatte sie missmutig angeschaut und war grußlos an ihr vorbeigeeilt. Er war ein kräftiger Mann, rot im Gesicht und einem Schwein nicht unähnlich. Ursula konnte ihn sich hinter einer Fleischertheke oder Brauereisäcke schleppend vorstellen, doch laut der Misses Nesbit war er bei einer Versicherung angestellt.
Mrs. Appleyard dagegen war dünn und blass, und wenn ihr Mann nicht zu Hause war, hörte Ursula sie traurig in einer Sprache singen, die sie nicht verorten konnte. So wie es klang, war es irgendeine osteuropäische Sprache. Wie nützlich Mr. Carvers Esperanto wäre, dachte sie. (Natürlich nur, wenn alle es sprächen.) Vor allem dieser Tage, da so viele Flüchtlinge nach London strebten. (»Sie ist Tschechin«, hatten ihr die Nesbits schließlich erzählt. »Früher wussten wir nicht, wo die Tschechoslowakei ist. Ich wünschte, wir wüssten es immer noch nicht.«) Ursula nahm an, dass auch Mrs. Appleyard Flüchtling war, die einen sicheren Hafen in den Armen eines englischen Gentleman gesucht und bei dem streitsüchtigen Mr. Appleyard gelandet war. Ursula dachte, dass sie, sollte sie jemals hören, wie Mr. Appleyard seine Frau schlug, an ihre Tür klopfen und dem ein Ende setzen müsste, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie sie es anstellen sollte.
Der Disput nebenan nahm an Lautstärke zu, und zum Abschluss knallte laut die Tür der Appleyards, und dann kehrte Stille ein. Mr. Appleyard, der geräuschvolle Auftritte und Abgänge mochte, stapfte die Treppe unter Hinterlassung einer Spur von Obszönitäten zu den Themen Frauen und Ausländer hinunter. Die geschundene Mrs. Appleyard war beides.
Die sauertöpfische Aura der Unzufriedenheit und der noch unappetitlichere Geruch von gekochtem Kohl, die durch die Mauer drangen, waren wirklich deprimierend. Ursula hätte es gefallen, wenn Flüchtlinge gefühlvoll und romantisch – und um ihrer Kultur willen geflohen – wären und nicht die misshandelten Frauen von Versicherungsangestellten. Das war lächerlich unfair von ihr.
Sie stieg vom Bett herunter und drehte sich vor
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