Die Unvollendete: Roman (German Edition)
fälschlicherweise an, dass es sich um ein Konzert handelte, doch es war eine Versammlung der Hitlerjugend. Trotz Frau Brenners Optimismus konnte der BDM Hildes und Hannes Interesse an Jungen nicht zügeln.
In Ursulas Augen sahen die Reihen zünftiger, gesunder Jungen alle gleich aus, aber Hilde und Hanne deuteten aufgeregt immer wieder auf Helmuts Freunde, die Walters, Werners, Kurts, Heinzes und Gerhards, die nahezu unbekleidet neben dem Schwimmbecken herumgelungert hatten. In ihren tadellosen Uniformen (noch mehr kurze Hosen), sahen sie jetzt aus wie wild entschlossene, rechtschaffene Pfadfinder.
Zur Musik einer Blaskapelle wurde viel marschiert und gesungen, und mehrere Redner versuchten sich (vergeblich) am deklamatorischen Stil des Führers, und dann sprangen alle auf und sangen Deutschland, Deutschland über alles. Da Ursula den Text nicht kannte, sang sie leise »Glorious Things of Thee Are Spoken« zu Haydns schöner Melodie, ein Lied, das sie oft bei Schulversammlungen gesungen hatten.
Im Anschluss daran schrien alle »Sieg Heil!« und salutierten mit dem Hitlergruß, und Ursula war überrascht, dass sie mitmachte. Klara bog sich bei ihrem Anblick vor Lachen, doch auch sie hatte den Arm erhoben. »Ja, natürlich«, sagte sie leichthin. »Ich will nicht, dass mir jemand auf dem Heimweg blöd kommt.«
Nein danke, Ursula wollte nicht mit Vati und Mutti Brenner im heißen, staubigen München bleiben, deswegen durchsuchte Klara ihren Schrank und fand einen blauen Rock und eine weiße Bluse, die den Anforderungen entsprachen, und die Gruppenführerin, Adelheid, stellte eine überschüssige khakifarbene Felduniformjacke zur Verfügung. Ein Dreieckstuch, durch einen geflochtenen ledernen Türkenbund gezogen, vervollständigte die Tracht. Ursula fand, dass sie ziemlich flott aussah. Sie bedauerte jetzt, dass sie nie bei den Pfadfinderinnen gewesen war, obwohl sie annahm, dass es dabei um mehr als nur die Uniform ging.
Die Altersobergrenze für den BDM war achtzehn, weswegen weder Ursula noch Klara, die laut Hanne »alte Damen« waren, beitreten durften. Ursula glaubte nicht, dass die Gruppe ihre Begleitung wirklich nötig hatte, da Adelheid die Mädchen so aufmerksam wie ein Hirtenhund zusammenhielt. Mit ihrer stattlichen Figur und den nordisch blonden Zöpfen ähnelte sie einer jungen Freya auf Besuch aus Fólkvangr. Sie war perfekte Propaganda. Bald wäre sie achtzehn und damit zu alt für den BDM, was würde sie dann tun?
»Dann werde ich natürlich der NS-Frauenschaft beitreten, was sonst?«, sagte sie. An ihrem wohlgeformten Busen steckte bereits ein kleines silbernes Hakenkreuz, das runische Symbol der Mitgliedschaft.
Sie fuhren mit dem Zug, ihre Rucksäcke lagen auf der Gepäckablage, und abends trafen sie in einem kleinen alpenländischen Dorf nahe der österreichischen Grenze ein. Vom Bahnhof marschierten sie in Formation (und selbstverständlich singend) zu ihrer Jugendherberge. Die Leute blieben stehen, um ihnen nachzuschauen, und manche klatschten anerkennend.
Der Schlafsaal, der ihnen zugeteilt wurde, stand voller Stockbetten, von denen die meisten schon von anderen Mädchen belegt waren. Sie mussten sich irgendwo wie die Sardinen dazwischenquetschen. Klara und Ursula beschlossen, auf einer Matratze auf dem Boden zu schlafen.
Im Speisesaal, in dem sie an langen Tapeziertischen saßen, wurde ihnen das Abendessen serviert, das standardmäßig aus Suppe und Knäckebrot mit Käse bestand. Morgens frühstückten sie Schwarzbrot, Käse und Marmelade und Tee oder Kaffee. Dank der sauberen Gebirgsluft hatten sie Heißhunger und verschlangen alles, was ihnen hingestellt wurde.
Das Dorf und die Umgebung waren idyllisch, es gab sogar eine kleine Burg, die sie besuchten. Sie war kalt und feucht, voller Rüstungen und Wappenschilder. Ein sehr ungemütlicher Ort.
Sie machten lange Wanderungen um den See oder durch den Wald, und dann ließen sie sich von Fuhrwerken oder Heuwagen mitnehmen und in die Jugendherberge zurückbringen. An einem Tag spazierten sie den Fluss entlang bis zu einem wunderschönen Wasserfall.
Klara hatte ihr Skizzenheft dabei, und ihre kleinen, anschaulichen Kohlezeichnungen waren viel ansprechender als ihre Bilder. »Ach«, sagte sie, »sie sind gemütlich. Meine Freunde würden lachen.« Das Dorf selbst war ein kleiner verschlafener Flecken mit Geranien vor den Fenstern. Am Fluss stand ein Wirtshaus, wo sie Bier tranken und Kalbfleisch mit Nudeln aßen, bis sie glaubten zu platzen.
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