Die Unvollendete: Roman (German Edition)
In ihren Briefen an Sylvie ließ Ursula das Bier unerwähnt, sie hätte nicht verstanden, wie allgegenwärtig es hier war. Und hätte sie es verstanden, hätte sie es missbilligt.
Am nächsten Tag wollten sie weiterziehen und ein paar Tage »unter Segeltuch« schlafen in einem großen Zeltlager für Mädchen, und Ursula tat es leid, das Dorf zu verlassen.
An ihrem letzten Abend fand ein Volksfest statt, eine Kombination aus Landwirtschaftsschau und Erntefest, von dem vieles für Ursula unverständlich war. (»Für mich auch«, sagte Klara. »Ich bin ein Stadtmensch.«) Die Frauen trugen alle die örtliche Tracht, und mit Blumen geschmückte Nutztiere wurden über eine Wiese geführt und prämiert. Hakenkreuzfahnen säumten die Wiese. Es gab jede Menge Bier, und eine Blaskapelle spielte. Mitten auf der Wiese war eine große Holzbühne errichtet worden, und begleitet von einem Akkordeon führten junge Männer in Lederhosen einen Schuhplattler vor, klatschten in die Hände, stampften mit den Füßen auf und schlugen sich im Takt der Musik auf Oberschenkel und Fersen.
Klara spottete darüber, aber Ursula gefiel die Vorführung. Sie dachte, dass sie gern in einem alpenländischen Dorf leben würde (»Wie Heidi«, schrieb sie an Pamela. Sie korrespondierte jetzt seltener mit ihrer Schwester, da Pamela sich so über das neue Deutschland echauffierte. Pamela war sogar aus der Entfernung die Stimme ihres Gewissens, aber andererseits war es einfach, weit entfernt ein Gewissen zu haben).
Der Akkordeonspieler reihte sich in die Kapelle ein, und die Leute begannen zu tanzen. Ursula wurde von einer Reihe schrecklich schüchterner Bauernjungen auf den Tanzboden geführt. Sie bewegten sich auf eine bäurische Art, in der sie den Dreivierteltakt des Schuhplattlers wiedererkannte. Vom Bier und vom vielen Tanzen war Ursula ganz schwindlig, so dass sie einen Moment lang verwirrt war, als Klara auftauchte und an der Hand einen sehr gutaussehenden Mann hinter sich herzog, der ganz eindeutig nicht aus dem Ort stammte, und sagte: »Schau, wen ich getroffen habe!«
»Wen?«, fragte Ursula.
»Niemand anderen als den entfernten Cousin unseres Cousins zweiten Grades«, sagte sie fröhlich. »Oder so etwas Ähnliches. Ich möchte dir Jürgen Fuchs vorstellen.«
»Nur ein entfernter Cousin«, sagte er und lächelte.
»Freut mich sehr, dich kennenzulernen«, sagte sie. Er schlug die Hacken zusammen und küsste ihr die Hand, und sie dachte an den Prinzen aus Aschenputtel. »Das ist der Preuße in mir«, sagte er und lachte. Auch die Brenner-Mädchen lachten. »In unseren Adern fließt überhaupt kein preußisches Blut«, sagte Klara.
Er hatte ein hübsches Lächeln, gleichermaßen amüsiert und nachdenklich, und außergewöhnlich blaue Augen. Er sah zweifellos genauso gut aus wie Benjamin Cole, nur dass Benjamin sein dunkles Gegenstück war, das Negativ zu Jürgen Fuchs’ Positiv.
Eine Todd und ein Fuchs – zwei Füchse. Hatte sich das Schicksal eingeschaltet? Dr. Kellet hätte die zufällige Fügung gefallen.
»Er sieht so gut aus«, schrieb sie Millie nach dieser Begegnung. Ihr fielen all die schrecklichen Ausdrücke aus billigen Liebesromanen ein – das Herz bleibt einem stehen, atemberaubend. Sie hatte an verregneten Nachmittagen viele von Bridgets Romanen gelesen.
»Liebe auf den ersten Blick«, schrieb sie überwältigt an Millie. Aber diese Gefühle waren natürlich keine »wahre« Liebe (die sie eines Tages für ein Kind empfinden würde), sondern nur der falsche Glanz des Wahnsinns. »Folie à deux«, antwortete Millie. »Wie schön.«
»Gut für dich«, schrieb Pamela.
»Die Ehe beruht auf einer beständigeren Art von Liebe«, mahnte Sylvie zur Vorsicht.
»Ich denke an Dich, kleiner Bär«, schrieb Hugh, »so weit weg von hier.«
Als es dunkel wurde, zog eine Prozession mit Fackeln durch das Dorf, und dann folgte ein Feuerwerk auf den Mauern der kleinen Burg. Es war sehr aufregend.
»Wunderschön, nicht wahr?«, sagte Adelheid, ihr Gesicht strahlte im Licht der Fackeln.
»Ja«, stimmte Ursula ihr zu, »es ist wunderschön.«
August 1939
D er Zauberberg.
»Ah, sie ist so niedlich.« Klick, klick, klick. Eva liebte ihre Rolleiflex. Eva liebte Frieda. Sie ist so süß, sagte sie. Sie standen auf der riesigen Terrasse des Berghofs, auf die hell die alpenländische Sonne schien, und warteten darauf, dass das Mittagessen serviert wurde. Es war viel angenehmer, draußen zu essen, al fresco, und nicht in dem großen
Weitere Kostenlose Bücher