Die Unvollendete: Roman (German Edition)
düsteren Speisesaal, durch dessen massives Fenster nichts als Berge zu sehen waren. Diktatoren liebten es, wenn alles einen großen Maßstab hatte, sogar die Landschaft. Bitte lächeln! Frieda entsprach dem Wunsch. Sie war ein höfliches Kind.
Eva hatte Frieda überredet, ihr zweckmäßiges, handgesmoktes englisches Kleid (von Bourne and Hollingsworth, von Sylvie gekauft und Frieda zum Geburtstag geschickt) auszuziehen, und sie stattdessen in bayerische Tracht gesteckt – Dirndl mit Schürze, weiße Kniestrümpfe. In Ursulas englischen Augen (die anscheinend jeden Tag englischer wurden) gehörte dieser Aufzug in eine Kostümkiste oder vielleicht in eine Schulaufführung. In ihrer Schule hatten sie einmal (wie lange her und wie weit weg das jetzt schien) den Rattenfänger von Hameln aufgeführt, und Ursula hatte ein Dorfmädchen gespielt und war ungefähr so angezogen gewesen wie Frieda jetzt.
Millie war der Rattenkönig, eine Bravourleistung, und Sylvie sagte: »Diese Shawcross-Mädchen blühen auf, wenn sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, nicht wahr?« Eva hatte etwas von Millie – eine ruhelose, leere Fröhlichkeit, die ständig Futter brauchte. Aber auch Eva war Schauspielerin, sie spielte die wichtigste Rolle ihres Lebens. Ja, ihr Leben war mit ihrer Rolle identisch.
Frieda, die hübsche, kleine Frieda, gerade fünf Jahre alt, mit ihren blauen Augen und den kurzen blonden Zöpfen. Sie war blass und schwach gewesen, als sie hier ankamen, doch jetzt war sie rosa und golden von der vielen alpenländischen Sonne. Wenn der Führer Frieda sah, bemerkte Ursula das fanatische Funkeln in seinen blauen Augen, die so kalt waren wie der Königssee weit unten, und sie wusste, dass sich die Zukunft des Tausendjährigen Reichs vor ihm erstreckte. Mädchen nach Mädchen. (»Sie sieht dir gar nicht ähnlich, oder?«, sagte Eva, ohne boshaft sein zu wollen, es war keine Boshaftigkeit in ihr.)
Als sie ein Kind gewesen war – eine Zeit in ihrem Leben, zu der Ursula dieser Tage nahezu zwanghaft zurückzukehren schien –, hatte sie Märchen über hintergangene Prinzessinnen gelesen, die sich vor lüsternen Vätern und eifersüchtigen Stiefmüttern in Sicherheit brachten, indem sie sich Walnusssaft ins Gesicht schmierten und Asche ins Haar rieben, um sich zu tarnen – als Zigeunerin, Außenseiterin, Ausgestoßene. Ursula fragte sich, wie man an Walnusssaft kam, es schien etwas zu sein, was man nicht einfach in einem Laden kaufen konnte. Und es war nicht länger sicher, die nussbraune Außenseiterin zu sein. Wenn man überleben wollte, war es viel besser, hier zu sein, auf dem Obersalzberg – dem Zauberberg – am Königshof der Scheinwelt, »dem Berg«, wie sie ihn mit der Vertrautheit der Erwählten nannten.
Was um alles in der Welt tat sie hier, fragte sich Ursula, und wann konnte sie wieder weg? Frieda ging es gut, sie war fast vollständig genesen. Ursula beschloss, heute etwas zu Eva zu sagen. Schließlich waren sie keine Gefangenen, sie konnten jederzeit gehen.
Eva zündete sich eine Zigarette an. Der Führer war nicht da, und die Maus tanzte auf dem Tisch. Er mochte es nicht, dass sie rauchte oder trank oder sich schminkte. Ursula bewunderte Evas kleine Trotzhandlungen. In den zwei Wochen, die Ursula mit Frieda jetzt auf dem Berghof war, war der Führer zweimal gekommen und wieder gegangen, seine Ankunft und Abreise Momente großen Dramas für Eva, für alle. Das Reich, hatte Ursula schon vor langer Zeit beschlossen, war Pantomime und Spektakel. »Es ist eine Mär aus einem Tölpelmund, voll von Getön und Toben«, schrieb sie Pamela. »Doch leider bedeutet sie nicht nichts.«
Auf ein Zeichen von Eva hin drehte sich Frieda im Kreis und lachte. Sie war der geschmolzene Kern im Zentrum von Ursulas Herzen, der Großteil von allem, was sie tat oder dachte, drehte sich um Frieda. Ursula war willens, für den Rest ihres Lebens auf Messerklingen zu gehen, wenn sie Frieda damit beschützen könnte. In der Hölle zu brennen, um sie zu retten. Im tiefsten Wasser zu ertrinken, um sie über Wasser zu halten. (Sie hatte viele extreme Szenarios durchgespielt. Um sich vorzubereiten.) Sie hatte keine Ahnung gehabt (Sylvie hatte sich kaum etwas anmerken lassen), dass Mutterliebe so herzzerreißend, so schmerzhaft körperlich sein konnte.
»O ja«, sagte Pamela, als wäre es das Normalste der Welt, »man wird regelrecht zur Wölfin.« Ursula betrachtete sich nicht als Wölfin, sie war schließlich eine
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