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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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essen, Gesundheit, Selbstachtung. Neue Stellen, neue Straßen, neue Fabriken, neue Hoffnung – wie sonst hätte das erreicht werden können, fragte er. Doch das alles war verbunden mit einer ekstatischen falschen Religion und einem zornigen falschen Messias. »Alles hat seinen Preis«, sagte Jürgen. Aber vielleicht keinen, der so hoch war wie dieser. (Wie hatten sie es geschafft?, fragte sich Ursula des Öfteren. Durch Angst und schauspielerisches Talent vor allem. Aber woher kamen all die Stellen und das Geld? Vielleicht von der Produktion von Fahnen und Uniformen, es gab so viele davon, dass sie ausgereicht hätten, um jede Volkswirtschaft zu retten. »Die Wirtschaft erholt sich sowieso«, schrieb Pamela. »Für die Nazis ist es ein glücklicher Zufall, dass sie diese Erholung für sich beanspruchen können.«) Ja, sagte Jürgen, am Anfang habe es Gewalt gegeben, aber das sei ein Spasmus, eine Woge gewesen, die SA, die Dampf abließ. Alles, jeder verhielt sich jetzt rationaler.
    Im April waren sie dabei gewesen, als der Führer in Berlin die Parade zu seinem fünfzigsten Geburtstag abnahm. Jürgen waren Sitze auf der Gästetribüne zugeteilt worden. »Das ist vermutlich eine Ehre«, sagte er.
    Was hatte er getan, fragte sie sich, um diese »Ehre« zu verdienen? (War er glücklich darüber? Manchmal war das schwer zu sagen.) 1936 hatte er für die Olympischen Spiele keine Karten bekommen können, doch jetzt waren sie hier, auf Tuchfühlung mit den VIPs des Reichs. Dieser Tage hatte er so viel zu tun. »Anwälte schlafen nie«, sagte er. (Doch soweit Ursula sehen konnte, waren sie bereit, während der »tausend Jahre« zu schlafen.)
    Die Parade hatte sich endlos in die Länge gezogen, sie war der bislang überwältigendste Ausdruck von Goebbels Effekthascherei. Jede Menge Marschmusik und dann die Ouvertüre der Luftwaffe – das imposante, laute Überfliegen der Ost-West-Achse und des Brandenburger Tors von Geschwadern in Formation, Welle über Welle. Weiteres Getön und Toben. »Heinkels und Messerschmitts«, sagte Jürgen. Woher wusste er das? Alle Jungs kennen ihre Flugzeuge, sagte er.
    Dann folgten die Regimenter auf der Straße, ein scheinbar unerschöpflicher Nachschub an Soldaten, die im Stechschritt vorbeimarschierten. Sie erinnerten Ursula an die Tiller Girls. »Stechschritt«, sagte Ursula, »wer um alles in der Welt hat den erfunden?«
    »Die Preußen natürlich«, sagte Jürgen und lachte.

    Sie holte eine Tafel Schokolade heraus, brach ein Stück ab und bot es Jürgen an. Er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, als würde sie der versammelten militärischen Macht nicht den nötigen Respekt bezeugen. Sie aß noch ein Stück. Kleine Trotzhandlungen.
    Er neigte sich zu ihr, damit sie ihn hören konnte – die Menge machte einen entsetzlichen Krach –, und sagte: »Wenn schon nichts anderes, muss man zumindest ihre Präzision bewundern.« Das tat sie, sie bewunderte sie. Sie war außergewöhnlich. Roboterhaft in ihrer Perfektion, als wäre jedes Regimentsmitglied identisch mit dem nächsten, als wären sie am Fließband produziert worden. Es sah nicht menschlich aus, aber andererseits war es nicht die Aufgabe der Armee, menschlich zu wirken, oder? (»Es war alles sehr maskulin «, berichtete sie Pamela.) Wäre die britische Armee zu so einem mechanischen Drill in diesem Ausmaß in der Lage? Die Sowjets vielleicht, aber die Briten waren irgendwie weniger engagiert.
    Frieda schlief bereits auf ihrem Knie, und es hatte gerade erst angefangen. Die ganze Zeit über salutierte Hitler, den Arm steif nach vorn gestreckt (von ihrem Platz aus konnte sie ihn sehen, nur den Arm, der vorragte wie ein Schürhaken). Macht verlieh offenbar ein besonderes Stehvermögen. Wenn es mein fünfzigster Geburtstag wäre, dachte Ursula, würde ich ihn gern am Ufer der Themse verbringen, Bray oder Henley, mit einem Picknick, einem sehr englischen Picknick – einer Thermoskanne Tee, Wurstbrötchen, Sandwiches mit Eiern und Kresse, Kuchen und Scones. Auf dem Bild war ihre ganze Familie versammelt, aber war Jürgen Teil des Idylls? Er würde gut dazupassen, wenn er leger gekleidet im Gras läge und sich mit Hugh über Kricket unterhielte. Sie hatten sich kennengelernt und gut verstanden. Sie waren 1935 in England, in Fox Corner gewesen. »Er scheint ein netter Kerl zu sein«, hatte Hugh gesagt, doch als er erfuhr, dass sie die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen hatte, war er nicht begeistert. Es war ein

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