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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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nicht schwindelfrei«, sagte sie. Eva rekelte sich ständig auf dieser Brüstung oder ließ Hunde oder kleine Kinder darauf paradieren. Der Abhang darunter war schwindelerregend, reichte weit in die Tiefe an Berchtesgaden vorbei bis zum Königssee. Ursula tat das kleine Berchtesgaden mit seinen unschuldigen Blumenkästen voller farbenfroher Geranien, seinen Wiesen, die sanft zum See abfielen, richtig leid. Es schien lange her, dass sie 1933 mit Klara hier gewesen war. Klaras Professor hatte sich von seiner Frau scheiden lassen, und Klara war jetzt mit ihm verheiratet, sie hatten zwei Kinder.
    »Hier oben leben die Nibelungen«, sagte Eva zu Frieda und deutete auf die Gipfel, »und Dämonen und Hexen und böse Hunde.«
    »Böse Hunde?«, sagte Frieda unsicher. Sie hatte bereits Angst vor Evas lästigen, nervigen Scottish Terriern, Negus und Stasi, und wollte nichts von Zwergen und Dämonen hören.
    Und ich habe gehört, dachte Ursula, dass Karl der Große sich im Untersberg versteckt, in einer Höhle schläft und darauf wartet, geweckt zu werden für die letzte Schlacht zwischen Gut und Böse. Sie fragte sich, wann sie stattfinden würde. Bald vielleicht.

    »Und noch eins«, sagte Eva. »Bitte, lächeln!« Die Rolleiflex glitzerte unerbittlich in der Sonne. Eva besaß auch eine Filmkamera, ein teures Geschenk von ihrem Herrn Wolf, und Ursula war froh, dass sie nicht in bewegten Bildern und in Farbe für die Nachwelt aufgenommen wurden. Ursula stellte sich vor, wie später einmal jemand in Evas (vielen) Alben blätterte und sich fragte, wer Ursula war, sie vielleicht mit Evas Schwester Gretl oder ihrer Freundin Herta verwechselte, Fußnoten der Geschichte.
    Eines Tages wäre das alles hier natürlich Geschichte, sogar die Berge – Sand war schließlich die Zukunft von Felsen. Die meisten Menschen wurstelten sich durch die Ereignisse und erkannten ihre Bedeutung erst im Rückblick. Der Führer war anders, er machte bewusst Geschichte für die Zukunft. Nur ein wahrer Narzisst konnte so etwas tun. Und Speer entwarf Gebäude für Berlin, so dass sie gut aussehen würden, wenn sie in tausend Jahren Ruinen wären, sein Geschenk an den Führer. (In so einem Maßstab zu denken! Ursula lebte von Stunde zu Stunde, eine weitere Folge der Mutterschaft, die Zukunft war ebenso sehr ein Rätsel wie die Vergangenheit.)
    Speer war der Einzige, der nett zu Eva war, und deswegen war Ursulas Meinung von ihm nicht ganz so schlecht, wie er es vielleicht verdiente. Er war zudem der einzige dieser teutonischen Möchtegern-Ritter, der gut aussah, der nicht fußlahm oder krötenplump oder fett wie ein Schwein war oder – schlimmer noch – einem untergeordneten Bürokraten ähnelte. (»Und sie tragen alle Uniform!«, schrieb sie an Pammy. »Aber es ist alles nur Schein. Es ist, als ob man in Der Gefangene von Zenda lebt. Sie sind unheimlich gut im Unsinnreden.« Wie sehr sie sich wünschte, dass Pammy hier wäre, wie sehr es ihr gefallen hätte, den Charakter des Führers und seiner Schergen auseinanderzunehmen. Sie wäre zu dem Schluss gekommen, dass sie alle Scharlatane waren und Scheinheiligkeiten vom Stapel ließen.)
    Privat behauptete Jürgen, dass er sie alle »ungeheuer« bescheuert fand, doch in der Öffentlichkeit verhielt er sich wie ein guter Diener des Reichs. Lippenbekenntnis, sagte er. (Not kennt kein Gebot, hätte Sylvie gesagt.) So kam man in der Welt voran, sagte er. Ursula dachte, dass er in dieser Beziehung wie Maurice war, der behauptete, dass man mit Dummköpfen und Eseln zusammenarbeiten musste, um seine Karriere voranzutreiben. Maurice war natürlich auch Anwalt. Dieser Tage war er ein großes Tier im Innenministerium. Wäre das ein Problem, sollte es Krieg geben? Würde die Rüstung ihrer deutschen Staatsbürgerschaft – die sie so widerwillig angenommen hatte – ausreichen, um sie zu schützen? (Sollte es Krieg geben! Durfte sie wirklich auf dieser Seite des Ärmelkanals bleiben?)
    Jürgen war Anwalt. Wenn er als Jurist arbeiten wollte, musste er Parteimitglied werden, er hatte keine Wahl. Lippenbekenntnis. Er arbeitete für das Justizministerium in Berlin. Als er ihr einen Antrag machte (»es glich ein bisschen einem Wirbelwind, wie er um mich geworben hat«, schrieb sie an Sylvie), war er gerade noch Kommunist gewesen.
    Jetzt hatte Jürgen linker Politik den Rücken gekehrt und verteidigte unerschütterlich, was erreicht worden war – das Land funktionierte wieder –, Vollbeschäftigung, genügend zu

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