Die Unvollendete: Roman (German Edition)
die Station wie Galeonen. Wie lange, fragte sich Ursula in einem Augenblick, in dem nicht ihre gesamte Aufmerksamkeit auf Frieda konzentriert war, brauchten sie am Morgen, um diese Vorrichtung aufzusetzen? Ursula war überzeugt, dass sie es nie zustande bringen würde. Allein der Kopfschmuck schien Grund genug, keine Nonne zu werden.
Sie wollten, dass Frieda lebte, und sie tat es. Triumph des Willens. Die Krise ging vorüber, und Frieda begann den langen Weg der Genesung. Blass und schwach hatte sie Erholung bitter nötig, und als Ursula eines Abends vom Krankenhaus nach Hause kam, fand sie einen Umschlag, der an ihrer Tür abgegeben worden war.
»Von Eva«, sagte sie zu Jürgen und zeigte ihm den Brief, als er von der Arbeit kam.
»Wer ist Eva?«, fragte er.
»Lächeln!« Klick, klick, klick. Alles, um Eva bei Laune zu halten. Es machte ihr nichts aus. Es war sehr freundlich von Eva gewesen, sie einzuladen, damit Frieda die gute Bergluft atmen und das frische Gemüse, die Eier und die Milch vom Gutshof essen konnte, dem Vorzeigebauernhof auf den Hängen unterhalb des Berghofs.
»Ist das ein königlicher Befehl?«, fragte Jürgen. »Kannst du ablehnen? Willst du ablehnen? Hoffentlich nicht. Und für deine Kopfschmerzen wird es auch gut sein.« Seit kurzem fiel ihr auf, dass ihre Gespräche immer einseitiger wurden, je höher er im Ministerium aufstieg. Er stellte Behauptungen auf, stellte Fragen, beantwortete die Fragen und zog Schlussfolgerungen, ohne sie am Gespräch zu beteiligen. (Vielleicht eine Gewohnheit von Anwälten im Allgemeinen.) Er schien sich seines Verhaltens nicht einmal bewusst zu sein.
»Der alte Ziegenbock hat also doch eine Frau. Wer hätte das gedacht? Wusstest du es? Nein, du hättest es mir erzählt. Und dass du sie auch noch kennst. Das kann uns nur nützen. Dem Thron so nahe zu sein. Für meine Karriere, die gleichbedeutend ist mit uns, Liebling«, fügte er beiläufig hinzu.
Ursula dachte, dass ein Platz nahe einem Thron ein gefährlicher Ort war. »Ich kenne Eva nicht«, sagte Ursula. »Ich bin ihr nie begegnet. Frau Brenner kennt sie und ihre Mutter, Frau Braun. Klara hat manchmal bei Hoffmann gearbeitet, mit Eva. Sie waren zusammen im Kindergarten.«
»Beeindruckend«, sagte Jürgen, »in drei kleinen Schritten vom Kaffeekränzchen ins Zentrum der Macht. Weiß Fräulein Eva Braun, dass ihre alte Kindergartenfreundin Klara mit einem Juden verheiratet ist?« Die Art, wie er das Wort aussprach, überraschte sie. Jude. Nie zuvor hatte sie ihn es auf diese Weise sagen hören – höhnisch und verächtlich. Es trieb ihr einen Nagel ins Herz. »Ich habe keine Ahnung«, sagte sie. »Ich gehöre nicht zum Kaffeekränzchen.«
Der Führer nahm so viel Platz in Evas Leben ein, dass sie in seiner Abwesenheit wie ein leeres Gefäß war. Sie hielt nachts Wacht am Telefon, wenn ihr Geliebter nicht da war, und verhielt sich wie ein Hund, ein Ohr nervös aufgestellt für den Anruf, der ihr die Stimme ihres Herrn brachte.
Und es gab so wenig zu tun hier oben. Nach einer Weile gingen einem die Spaziergänge auf den Waldwegen und das Schwimmen im (eiskalten) Königssee auf die Nerven, statt einen zu kräftigen. Man konnte nicht ewig wilde Blumen pflücken oder in den Liegestühlen auf der Terrasse ein Sonnenbad nehmen, ohne verrückt zu werden. Auf dem Berg waren zahllose Kindermädchen und -frauen, die sich um Frieda rissen, und Ursula hatte genauso viel Freizeit wie Eva. Sie hatte dummerweise nur ein Buch eingepackt, zumindest war es dick, Manns Der Zauberberg. Ihr war nicht klar gewesen, dass es auf der Liste der verbotenen Bücher stand. Ein Wehrmachtsoffizier sah, wie sie darin las, und sagte: »Das ist sehr mutig von Ihnen, das ist eins von ihren verbotenen Büchern.« Sie vermutete, dass er nicht zu »ihnen« gehörte, so wie er »ihren« gesagt hatte. Was konnten sie schlimmstenfalls tun? Ihr das Buch wegnehmen und es im Küchenofen verbrennen?
Der Wehrmachtsoffizier war nett. Seine Großmutter war Schottin, erzählte er, und er hatte viele schöne Ferien in »den Highlands« verbracht.
Im Grunde hat es eine merkwürdige Bewandtnis mit diesem Sicheinleben an fremdem Orte, dieser – sei es auch – mühseligen Anpassung und Umgewöhnung, las sie und übersetzte es unter Mühen und ziemlich schlecht ins Englische. Wie wahr, dachte sie. Mann war harte Arbeit. Ihr wäre eine Kiste mit Bridgets Schauerromanen lieber gewesen. Sie waren bestimmt nicht verboten.
Die Bergluft hatte ihren
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