Die Unvollendete: Roman (German Edition)
Kopfschmerzen gar nicht gutgetan (und Thomas Mann auch nicht). Wenn überhaupt, dann waren sie schlimmer geworden. Kopfschmerzen, allein bei dem Wort tat ihr der Kopf weh. »Ich kann nichts finden«, hatte der Arzt im Krankenhaus gesagt. »Es muss an Ihren Nerven liegen.« Er verschrieb ihr Veronal.
Eva hatte keinen Intellekt, den sie beschäftigen musste, aber der Berg war auch nicht gerade ein Zentrum der Intelligenz. Die einzige Person, die man einen Denker nennen konnte, war Speer. Eva führte kein »ungeprüftes Leben«, bestimmt nicht, vermutete Ursula. Man konnte die Depression und die Neurosen hinter der Lebenslust spüren, aber Angst war nicht etwas, was ein Mann bei einer Geliebten suchte.
Ursula nahm an, dass eine Frau, um eine erfolgreiche Geliebte zu sein, Trost spenden und Erleichterung verschaffen, ein sanftes Ruhekissen für einen müden Kopf sein sollte. (Ursula selbst war nie eine Geliebte gewesen, weder erfolgreich noch erfolglos.) Gemütlichkeit. Eva war liebenswürdig, sie plauderte über unwichtige Dinge und versuchte nicht, geistreich oder scharfsinnig zu sein. Mächtige Männer brauchten anspruchslose Frauen, das Heim sollte keine Arena für intellektuellen Disput sein. »Mein eigener Mann hat es mir gesagt, deswegen muss es stimmen!«, schrieb sie Pamela. Er hatte es nicht auf sich bezogen – er war kein mächtiger Mann. »Noch nicht jedenfalls«, sagte er und lachte.
Politik interessierte Eva nur insofern, als sie ihr das Objekt ihrer Hingabe wegnahm. Sie wurde erbarmungslos vor der Öffentlichkeit versteckt, ihr wurde kein offizieller Status zugestanden, überhaupt kein Status, sie war so loyal wie ein Hund, bekam dafür jedoch weniger Anerkennung als ein Hund. Blondi rangierte höher in der Hierarchie als Eva. Am meisten bedauerte sie, sagte Eva, dass sie die Herzogin nicht hatte kennenlernen dürfen, als die Windsors dem Berghof einen Besuch abstatteten.
Ursula runzelte die Stirn, als sie das hörte. »Aber sie ist eine Nazi«, sagte sie gedankenlos. (»Vermutlich sollte ich besser aufpassen, was ich sage«, schrieb sie Pamela.) Eva hatte nur erwidert: »Ja, selbstverständlich ist sie das«, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, dass die Frau des einstigen Königs von England eine Anhängerin Hitlers war.
Der Führer musste als jemand gesehen werden, der den edlen einsamen Weg der Keuschheit beschritt, er konnte keine Frau heiraten, weil er mit Deutschland verheiratet war. Er opferte sich für das Schicksal seines Landes – das zumindest war die Kernaussage. Ursula glaubte, an diesem Punkt diskret eingedöst zu sein. (Er hielt einen seiner endlosen Monologe nach dem Abendessen.) Wie unsere eigene jungfräuliche Königin, dachte sie, sagte es jedoch nicht, da sie meinte, dass der Führer nicht gern mit einer Frau verglichen würde, auch nicht mit einer englischen Aristokratin mit dem Herzen und dem Mut eines Königs. In der Schule hatte Ursula einen Geschichtslehrer gehabt, der besonders gern Elizabeth I zitiert hatte. Erzähle niemandem ein Geheimnis, dessen Vertrauen und Verschwiegenheit du nicht bereits auf die Probe gestellt hast.
Eva wäre in München glücklicher gewesen, in dem kleinbürgerlichen Haus, das ihr der Führer gekauft hatte, in dem sie ein normales Sozialleben führen konnte. Hier in diesem goldenen Käfig musste sie sich ablenken, sie blätterte in Zeitschriften, sprach über die neuesten Frisuren und das Liebesleben von Filmstars (als wüsste Ursula etwas zu diesem Thema) und führte wie eine Verwandlungskünstlerin ein Kleid nach dem anderen vor. Ursula war mehrmals in ihrem Schlafzimmer gewesen, ein hübsches, feminines Boudoir, ganz anders als der plump eingerichtete Rest des Berghofs, verunstaltet nur von einem Porträt des Führers, das den Ehrenplatz an der Wand einnahm. Ihr Held. In seinen Räumen hatte der Führer kein Bild seiner Geliebten aufgehängt. Nicht Evas Gesicht lächelte von der Wand auf ihn herunter, sondern die strengen Züge seines geliebten Helden, Friedrichs des Großen, blickten zweifelnd auf ihn herab.
»Ich höre immer ›grocer‹ statt ›großer‹«, schrieb sie an Pamela. Lebensmittelhändler waren im Allgemeinen keine Kriegstreiber oder Eroberer. Wo hatte der Führer Größe gelernt? Eva zuckte die Achseln, sie wusste es nicht. »Er war schon immer Politiker. Er wurde als Politiker geboren.« Nein, dachte Ursula, er wurde als Baby geboren wie alle anderen auch. Und dann hatte er beschlossen, Politiker zu
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