Die Unvollendete: Roman (German Edition)
schrecklicher Fehler gewesen, das wusste sie jetzt. »Späte Einsicht ist etwas Wunderbares«, sagte Klara. »Wenn es sie nicht gäbe, gäbe es keine Geschichte, über die es zu schreiben lohnt.«
Sie hätte in England bleiben sollen. Sie hätte in Fox Corner mit der Wiese, dem Wäldchen und dem Fluss bleiben sollen, der durch den Wald mit den Glockenblumen floss.
Die Kriegsmaschinerie rollte vorbei. »Da kommen die Panzer«, sagte Jürgen auf Englisch, als der erste Panzer auf der Ladefläche eines Lastwagens zu sehen war. Sein Englisch war gut, er hatte ein Jahr in Oxford studiert (daher auch seine Kricketkenntnisse). Dann folgten die aus eigener Kraft rollenden Panzer, Motorräder mit Beiwagen, gepanzerte Wagen, die adrette Kavallerie (ein besonderer Erfolg – Ursula weckte Frieda der Pferde wegen) und dann die Artillerie, von leichten Feldgeschützen bis zu massiven Flugabwehrgeschützen und riesige Kanonen.
»K3 s«, sagte Jürgen anerkennend, als ob sie damit irgendetwas anfangen könnte.
Die Parade zeugte von einer Liebe zu Ordnung und Geometrie, die Ursula unverständlich war. Darin unterschied sie sich nicht von anderen Paraden und Kundgebungen – das ganze Theater –, aber diese Parade wirkte so kriegslüstern. Die Masse der Waffen war gigantisch – das Land war bis an die Zähne bewaffnet. Ursula hatte keine Ahnung gehabt. Kein Wunder, dass alle Arbeit hatten. »Wenn man die Wirtschaft retten will, braucht man einen Krieg, behauptet Maurice«, schrieb Pamela. Und wozu brauchte man Waffen, wenn nicht für einen Krieg?
»Das Militär auszurüsten hat dazu beigetragen, unsere Psyche zu retten«, sagte Jürgen. »Es hat uns den Stolz auf unser Land zurückgegeben. Als die Generäle 1918 kapitulierten …« Ursula hörte nicht mehr zu, es war ein Argument, das zu häufig angeführt wurde. »Sie haben den letzten Krieg angefangen«, schrieb sie verdrossen an Pamela. »Und ehrlich, man könnte meinen, sie wären das einzige Volk gewesen, das danach zu kämpfen hatte, dass niemand außer ihnen arm und hungrig gewesen ist und Verluste zu beklagen hatte.« Frieda erwachte und war missmutig. Sie fütterte sie mit Schokolade. Auch Ursula war missmutig. Sie aßen die Tafel zu zweit auf.
Das Finale war in der Tat bewegend. Die versammelten Standartenträger der Regimenter formten mehrere Reihen vor Hitlers Tribüne – eine so präzise Aufstellung, als wären die Ränder mit der Rasierklinge gezogen –, und dann senkten sie ihm zu Ehren die Standarten auf den Boden. Die Menschen tobten.
»Wie hast du es gefunden?«, fragte Jürgen, als sie die Tribüne verließen. Er trug Frieda auf den Schultern.
»Großartig«, sagte Ursula. »Es war großartig.« Sie spürte, wie sich die Kopfschmerzen einen Weg in ihre Schläfen bahnten.
Friedas Krankheit hatte ein paar Wochen zuvor mit einer erhöhten Temperatur eingesetzt. »Ich bin krank«, sagte Frieda. Als Ursula ihr die Hand auf die Stirn legte, fühlte sie sich feucht an, und sie sagte: »Du musst heute nicht in den Kindergarten, du kannst bei mir zu Hause bleiben.«
»Eine Sommergrippe«, sagte Jürgen, als er nach Hause kam. Frieda hatte es häufig auf der Brust (»Sie kommt nach meiner Mutter«, sagte Sylvie betrübt), und sie waren daran gewöhnt, dass sie erkältet war und schniefte und Halsweh hatte. Doch die Erkältung wurde rasch schlimmer, und Frieda hatte hohes Fieber und wurde apathisch. Ihre Haut fühlte sich an, als würde sie gleich in Flammen aufgehen. »Halten Sie sie kühl«, sagte der Arzt, und Ursula legte ihr kalte, nasse Tücher auf die Stirn und las ihr Geschichten vor, doch Frieda interessierte sich nicht dafür. Dann begann sie zu phantasieren, und der Arzt horchte ihre rasselnde Lunge ab und sagte: »Bronchitis, Sie müssen warten, dass sie abklingt.«
Spät an diesem Abend ging es Frieda plötzlich viel schlechter, und sie wickelten den nahezu leblosen kleinen Körper in eine Decke und fuhren mit dem Taxi ins nächste Krankenhaus. Es war ein katholisches Krankenhaus, in dem eine Lungenentzündung diagnostiziert wurde. »Sie ist ein sehr krankes kleines Mädchen«, sagte der Arzt, als wären sie daran schuld.
Zwei Tage und zwei Nächte wachte Ursula an Friedas Bett, hielt die kleine Hand, um sie in dieser Welt festzuhalten. »Wenn nur ich statt ihrer krank wäre«, flüsterte Jürgen über das gestärkte weiße Laken hinweg, das Frieda ebenfalls in dieser Welt festhielt. Nonnen mit riesigen komplizierten Hauben glitten durch
Weitere Kostenlose Bücher