Die Unvollendete: Roman (German Edition)
gen den Tag – (so wäre es, dachte sie, wenn er noch lange weiterredete). Zurück zum Schicksal – seinem –, wie es unlöslich mit dem Schicksal des Volkes verbunden war. Heimat, Boden, Sieg oder Untergang (Was für ein Sieg?, fragte sich Ursula. Gegen wen?). Dann irgendwas über Friedrich den Großen, das sie nicht verstand, irgendwas über römische Architektur und dann über das Vaterland. (Für die Russen war es das »Mutterland«, war daraus etwas zu schließen? Wie hielten es die Engländer? Nur »England«, im Notfall noch Blakes »Jerusalem«.)
Dann erneut das Schicksal und das Tausendjährige Reich. Und immer weiter, so dass das Kopfweh, das vor dem Abendessen als dumpfer Schmerz eingesetzt hatte, sich zu einer Dornenkrone ausgewachsen hatte. Sie stellte sich vor, dass Hugh sagte: »Ach, halten Sie den Mund, Herr Hitler«, und hatte plötzlich so großes Heimweh, dass sie am liebsten geweint hätte.
Sie wollte nach Hause. Sie wollte nach Fox Corner.
Wie an einem königlichen Hof durften sie sich erst zurückziehen, wenn sie entlassen wurden, wenn der Monarch beschloss, selbst das Schlafgemach aufzusuchen. Irgendwann sah Ursula, wie Eva ihn theatralisch angähnte, als wollte sie sagen: »Jetzt reicht’s, Wolfi« (ihre Phantasien wurden immer greller, entschuldbar angesichts der Umstände). Und dann endlich, Gott sei Dank, stand er auf, und die erschöpfte Gesellschaft löste sich auf.
Besonders Frauen schienen den Führer zu mögen. Sie schrieben ihm zu Tausenden Briefe, stickten für ihn Hakenkreuze auf Kissen, buken Kuchen für ihn und stellten sich wie Hildes und Hannes BDM-Mädelschaft an den Rand der steilen Straße hinauf zum Obersalzberg, um einen begeisterten Blick auf ihn und den großen schwarzen Mercedes zu werfen. Viele Frauen riefen ihm zu, dass sie ein Kind von ihm wollten. »Aber was sehen sie in ihm?«, wunderte sich Sylvie. Ursula war mit ihr zu einer der endlosen, fahnenschwenkenden Paraden in Berlin gegangen, weil Sylvie »selbst herausfinden wollte, worum es bei diesem ganzen Getue ging«. (Wie überaus britisch von Sylvie, das Dritte Reich auf »Getue« zu reduzieren.)
Die Straße war ein Wald aus Rot, Schwarz und Weiß. »Das sind sehr harte Farben«, sagte Sylvie, als würde sie in Erwägung ziehen, die Nazis zu bitten, ihr Wohnzimmer einzurichten.
Als sich der Führer näherte, steigerte sich die Aufregung zu einer tollwütigen Ekstase aus Sieg Heil und Heil Hitler. »Bin ich die Einzige, die ungerührt bleibt?«, fragte Sylvie. »Was glaubst du, ist das – eine Art Massenhysterie?«
»Ich weiß«, sagte Ursula, »es ist wie mit des Kaisers neuen Kleidern. Wir sind die Einzigen, die den nackten Mann sehen.«
»Er ist ein Clown«, sagte Sylvie verächtlich.
»Psst«, sagte Ursula. Das deutsche Wort war gleichlautend mit dem englischen, und sie wollte sich nicht die Feindschaft der Leute in ihrer Nähe zuziehen. »Du solltest den Arm heben«, sagte sie.
»Ich?«, sagte die entrüstete Blüte britischer Weiblichkeit.
»Ja, du.«
Widerstrebend hob Sylvie den Arm. Ursula dachte, dass sie den Anblick ihrer Mutter, die den Arm zum Hitler-Gruß hob, bis zu ihrem Lebensende nicht vergessen würde. Ursula sagte sich später, dass das 1934 gewesen war, als ihr Gewissen noch nicht geschrumpft und von Angst verwirrt war, als sie blind für das gewesen war, was sich da wirklich anbahnte. Blind vor Liebe vielleicht oder einfach unglaublich dumm. (Pamela hatte es gesehen, sie trug keine Scheuklappen.)
Sylvie hatte die Reise nach Deutschland gemacht, um Ursulas unverhofften Mann zu begutachten. Ursula fragte sich, was sie getan hätte, wenn ihr Jürgen nicht gepasst hätte – sie betäubt und entführt und in den Schnellzug gesetzt? Sie lebten noch in München, Jürgen arbeitete noch nicht für das Justizministerium in Berlin, sie waren noch nicht an den Savignyplatz gezogen und hatten noch kein Kind, doch Ursula war bereits hochschwanger.
»Man stelle sich vor, dass du Mutter wirst«, sagte Sylvie, als wäre es etwas, womit sie nie und nimmer gerechnet hatte. »Von einem Deutschen«, fügte sie nachdenklich hinzu.
»Von einem Baby«, sagte Ursula.
»Es ist schön, mal wegzukommen«, sagte Sylvie. Weg von was?, fragte sich Ursula.
Einmal trafen sie Klara zum Mittagessen, und danach sagte Klara: »Deine Mutter ist ziemlich schick.« Ursula hatte ihre Mutter nie für elegant gehalten, doch ihr leuchtete ein, dass Sylvie, verglichen mit Klaras Mutter Frau Brenner, die so
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