Die Unvollendete: Roman (German Edition)
ihr Bestes.
Wenn ein Tag mit Eva langweilig sein konnte, war das nichts, verglichen mit einem Abend mit dem Führer. Nach dem Abendessen saßen sie endlose Stunden in der Großen Halle – einem riesigen, hässlichen Raum, wo sie Musik hörten oder Filme sahen (oder häufig auch beides). Selbstverständlich bestimmte der Führer die Auswahl. Was Musik betraf, bevorzugte er Die Fledermaus und Die lustige Witwe. Am ersten Abend glaubte Ursula, dass sie den Anblick von Bormann, Himmler, Goebbels (und ihren primitiven Gefährtinnen) und ihr schmallippiges Schlangenlächeln (weitere Lippenbekenntnisse vielleicht), während sie Die lustige Witwe hörten, wohl kaum vergessen würde. An der Universität hatte Ursula 1931 eine Studentenaufführung davon gesehen. Sie war gut befreundet mit dem Mädchen, das die Hauptrolle, Hanna, spielte. Damals wäre sie nicht im Traum auf den Gedanken gekommen, dass sie »Vilja, oh Vilja, du Waldmägdelein« das nächste Mal auf Deutsch und in dieser überaus seltsamen Gesellschaft hören würde. 1931 hatte sie ihre Zukunft nicht vorhergesehen, ganz zu schweigen von der Zukunft Europas.
Fast jeden Abend wurden in der Großen Halle Filme vorgeführt. Der Filmvorführer kam, und der großflächige Behang an einer Wand wurde wie eine Jalousie mechanisch aufgerollt, und dahinter kam eine Leinwand zum Vorschein. Dann mussten sie eine schreckliche romantische Schnulze oder ein amerikanisches Abenteuer anschauen oder, schlimmer noch, einen Bergfilm. Ursula hatte King Kong, Bengali und Der Berg ruft gesehen. Am ersten Abend war es Der heilige Berg gewesen (mehr Berge, mehr Leni). Eva vertraute ihr an, dass Schneewittchen der Lieblingsfilm des Führers war. Und mit welcher Person identifizierte er sich, fragte sich Ursula, mit der bösen Hexe, den Zwergen? Bestimmt nicht mit Schneewittchen. Es musste der Prinz sein, dachte sie (hatte er einen Namen? Hatten die Prinzen jemals einen Namen, genügte es, die Rolle zu sein? ) Der Prinz, der das schlafende Mädchen weckte, so wie der Führer Deutschland geweckt hatte. Aber nicht mit einem Kuss.
Als Frieda geboren wurde, hatte Klara ihr eine wunderschöne Ausgabe von Schneewittchen und die sieben Zwerge geschenkt, illustriert von Franz Jüttner. Klaras Professor durfte schon längst nicht mehr an der Kunstakademie unterrichten. Sie hatten 1935 vorgehabt, das Land zu verlassen, und dann wieder 1936. Nach der Kristallnacht hatte Pamela Klara direkt geschrieben und ihr angeboten, in Finchley unterzukommen. Aber diese Trägheit, diese verdammte Tendenz zu warten … und dann wurde ihr Professor festgenommen und nach Osten deportiert – um in einer Fabrik zu arbeiten, behaupteten die Behörden. »Seine wunderbaren Bildhauerhände«, sagte Klara traurig.
(»Das sind nicht wirklich Fabriken «, schrieb Pamela.)
Als Kind hatte Ursula begeistert Märchen gelesen. Sie hatte großes Vertrauen nicht so sehr in einen glücklichen Ausgang als vielmehr in die Wiederherstellung von Gerechtigkeit in der Welt. Sie vermutete, dass sie von den Gebrüdern Grimm hinters Licht geführt worden war. Spieglein, Spieglein, an der Wand/Wer ist die Schönste im ganzen Land? Bestimmt nicht dieser Haufen, dachte Ursula und schaute sich während ihres ersten anstrengenden Abends auf dem Berg in der Großen Halle um.
Der Führer zog Operetten Opern vor, Zeichengeschichten intellektueller Kultur. Ursula sah, wie er Evas Hand hielt und zu Lehar summte, und dachte, wie gewöhnlich (sogar albern) er war, mehr Mickey Mouse als Siegfried. Sylvie hätte kurzen Prozess mit ihm gemacht. Izzie hätte ihn gefressen und wieder ausgespuckt. Mrs. Glover – was hätte Mrs. Glover getan? Es war ihr neues Lieblingsspiel, sich zu überlegen, wie die Leute, die sie kannte, mit den Nazi-Oligarchen verfahren wären. Mrs. Glover hätte sie wahrscheinlich alle mit ihrem Fleischklopfer traktiert. (Was würde Bridget tun? Sie vermutlich einfach ignorieren.)
Als der Film zu Ende war, sprach der Führer (stundenlang) über seine Lieblingsthemen – deutsche Kunst und Architektur (er sah sich selbst als verhinderten Architekten), Blut und Boden (das Land, immer wieder das Land), seinen einsamen, edlen Weg (der Wolf). Er war der Retter Deutschlands, und das arme Deutschland, sein Schneewittchen, würde von ihm gerettet werden, ob es wollte oder nicht. Er salbaderte über gesunde deutsche Kunst und Musik, über Wagner, Die Meistersinger, seine Lieblingszeile aus dem Libretto – Wacht auf, es nahet
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