Die Unvollendete: Roman (German Edition)
werden.
Das Schlafzimmer des Führers, das an Evas Bad anschloss, war tabu. Ursula hatte ihn jedoch schlafen sehen, nicht in seinem sankrosankten Schlafzimmer, sondern nach dem Mittagessen in der warmen Sonne auf der Terrasse des Berghofs, der Mund des großen Kriegers stand offen in einem Akt der Majestätsbeleidigung.
Er sah verletztlich aus, doch auf dem Berg trieben sich keine Meuchelmörder herum. Es gab jede Menge Waffen, dachte Ursula, kein Problem, an eine Luger zu kommen und ihm ins Herz oder in den Kopf zu schießen. Aber was würde dann mit ihr passieren? Und, schlimmer noch, mit Frieda?
Eva saß neben ihm und betrachtete ihn voller Zuneigung wie ein Kind. Wenn er schlief, gehörte er nur ihr.
Sie war im Grunde nicht mehr und nicht weniger als eine nette junge Frau. Man konnte eine Frau nicht notwendigerweise nach dem Mann beurteilen, mit dem sie schlief. (Oder doch?)
Eva hatte eine wunderbare athletische Figur, um die Ursula sie beneidete. Sie war ein gesundes, körperbetontes Mädchen – eine Schwimmerin, eine Skifahrerin, eine Schlittschuhläuferin, eine Tänzerin, eine Turnerin –, die es liebte, sich im Freien aufzuhalten, sich zu bewegen. Und doch hatte sie sich wie eine Napfschnecke an einen trägen Mann mittleren Alters, ein Geschöpf der Nacht gehängt, der vor Mittag nicht aus dem Bett aufstand (und doch einen Nachmittagsschlaf halten konnte), der nicht rauchte, nicht trank oder tanzte oder sich den Bauch vollschlug – der spartanisch in seinen Gewohnheiten war, aber über Lebenskraft verfügte. Einen Mann, der manchmal in einer Lederhose herumlief (merkwürdig unattraktiv für das nicht-bayerische Auge), dessen Mundgeruch Ursula schon bei ihrer ersten Begegnung abgestoßen hatte und der Tabletten »gegen seine Blähungen« wie Süßigkeiten schluckte (»Wie ich höre, furzt er«, sagte Jürgen, »sei gewarnt. Es muss an dem vielen Gemüse liegen«). Er war besorgt um seine Würde, aber er war nicht wirklich eitel. »Nur größenwahnsinnig«, schrieb sie Pamela.
Ein Wagen mit Chauffeur hatte sie hergebracht, und als sie vor dem Berghof ankamen, hatte sie der Führer persönlich begrüßt – auf der großen Treppe, auf der er Würdenträger willkommen hieß, auf der er im Jahr zuvor Chamberlain empfangen hatte. Als Chamberlain nach Großbritannien zurückgekehrt war, sagte er, er wisse jetzt, »was Herr Hitler denkt«. Ursula bezweifelte, dass das irgendjemand wusste, nicht einmal Eva. Insbesondere nicht Eva.
»Seien Sie willkommen, gnädige Frau«, sagte er. »Sie sollten bleiben, bis es der lieben Kleinen bessergeht.«
»Er mag Frauen, Kinder, Hunde, was kann man also an ihm aussetzen?«, schrieb Pamela. »Wirklich eine Schande, dass er ein Diktator ohne Respekt für das Gesetz oder die Menschheit im Allgemeinen ist.« Pamela hatte Freunde in Deutschland aus ihrer Studienzeit, viele von ihnen Juden. Sie hatte drei unbändige Jungen (die stille kleine Frieda hätte in Finchley keine Chance) und schrieb, dass sie wieder schwanger war, »drück mir die Daumen, dass es ein Mädchen wird«. Ursula vermisste Pamela.
Pamela käme mit diesem Regime nicht zurecht. Ihre moralische Entrüstung wäre zu groß, als dass sie hätte schweigen können. Sie könnte sich nicht so auf die Zunge beißen wie Ursula (sie trug ein Knebeleisen). Auch sie, die nur dastehen und warten, leisten ihren Dienst.
Galt das für die eigene Moral? Führe ich das zu meiner Verteidigung an?, fragte sich Ursula. Es wäre besser, nicht Milton, sondern Edmund Burke (falsch) zu zitieren: Das Böse triumphiert allein dadurch, dass gute Frauen nichts tun.
Am Tag nach ihrer Ankunft wurde ein Kindergeburtstag gefeiert, der Geburtstag eines kleinen Goebbels oder Bormanns, Ursula wusste es nicht genau – es waren ihrer so viele, und sie ähnelten einander so sehr. Sie erinnerten sie an die Reihen der Soldaten bei der Parade zu Hitlers Geburtstag. Sie waren gewaschen und herausgeputzt, und mit jedem sprach der Onkel Wolf ein Wort, bevor sie sich auf die Kuchen stürzen durften, die auf dem langen Tisch standen. Das arme Schleckermäulchen Frieda (die in dieser Beziehung zweifelsfrei ihrer Mutter nachschlug), der vor Erschöpfung fast die Augen zufielen, konnte nichts davon essen. Es gab immer Kuchen auf dem Berghof, Mohnstreusel und Kuchen mit Pflaumen und Zimt, Blätterteiggebäck mit Cremefüllung, Schokoladenkuchen, große Schwarzwälder Kirschtorten, Ursula wunderte sich, wer den vielen Kuchen aß. Sie jedenfalls tat
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