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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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die Pumpen«. Manchmal hielten sie in ihrer Wohnung im zweiten Stock »die Augen offen«, mit einer exzellenten Aussicht aus einem großen Eckfenster.
    Miss Woolf machte auch spezielle Erste-Hilfe-Übungen mit ihnen. Abgesehen davon, dass sie Oberschwester in einem Krankenhaus gewesen war, hatte sie im letzten Krieg ein Feldlazarett geleitet und erklärte ihnen, dass die Opfer im Krieg (»wie die Herren, die in jenem schrecklichen Konflikt aktiv im Dienst waren, werden zugeben müssen«) sich grundlegend von den Opfern normaler Unfälle in Friedenszeiten unterschieden. »Sie sind viel schlimmer zugerichtet«, sagte sie. »Wir müssen uns auf erschütternde Anblicke gefasst machen.« Natürlich hatte nicht einmal Miss Woolf vorausgeahnt, wie erschütternd diese Anblicke waren, wenn Zivilisten und nicht Soldaten betroffen waren, wenn es darum ging, nicht identifizierbare Fleischstücke auszugraben oder die herzzerreißend kleinen Gliedmaßen eines Kindes aus den Trümmern zu klauben.
    »Wir dürfen nicht wegsehen«, sagte Miss Woolf zu Ursula, »wir müssen unsere Arbeit machen und Zeugnis ablegen.« Was bedeutete das, fragte Ursula. »Das bedeutet«, sagte Miss Woolf, »dass wir diese Menschen nicht vergessen dürfen, wenn wir in einer sicheren Zukunft leben.«
    »Und wenn wir umkommen?«
    »Dann dürfen andere uns nicht vergessen.«
    Der erste ernste Bombeneinschlag, um den sie sich kümmern mussten, erfolgte in einem direkt getroffenen, großen Haus in einer Straße mit Reihenhäusern. Die anderen Häuser waren unbeschädigt, als hätte die Luftwaffe die Bewohner persönlich ins Visier genommen – zwei Familien einschließlich der Großeltern, mehrere Kinder und zwei Säuglinge. Alle hatten die Explosion im Keller überlebt, aber sowohl die Hauptwasserleitung als auch ein dickes Abwasserrohr waren geborsten, und bevor sie zugedreht werden konnten, waren alle im Keller in der widerwärtigen Brühe ertrunken.
    Eine Frau konnte sich an der Kellermauer festkrallen, sie sahen sie durch einen Spalt, und Miss Woolf und Mr. Armitage hielten Hughs Ledergürtel fest, während Ursula über den Rand des einstigen Kellers hing. Sie streckte die Hand nach der Frau aus, meinte einen Augenblick lang, sie packen zu können, doch dann verschwand sie einfach in dem dreckigen Wasser, das anstieg und den Keller füllte.
    Als endlich die Feuerwehr kam und den Keller auspumpte, holten sie fünfzehn Leichen heraus, sieben davon Kinder, und legten sie vor das einstige Haus, als sollten sie dort trocknen. Miss Woolf wies sie an, sie so schnell wie möglich zu bedecken und hinter eine Mauer zu bringen, während sie auf den Leichenwagen warteten. »Solche Anblicke sind nicht gut für die Moral«, sagte sie. Ursula hatte ihr Abendessen längst erbrochen. Sie übergab sich nach fast jeder Rettungsaktion. Ebenso Mr. Armitage und Mr. Palmer, Mr. Simms übergab sich davor. Nur Miss Woolf und Mr. Bullock schienen Mägen zu haben, die stark genug für den Tod waren.
    Danach versuchte Ursula, nicht an die Babys zu denken oder an den Ausdruck der Todesangst (und von etwas anderem, Ungläubigkeit vielleicht, dass so etwas passieren konnte) auf dem Gesicht der armen Frau, als sie vergeblich versuchte, nach Ursulas Hand zu greifen. »Stellen Sie sich vor, dass sie Frieden gefunden haben«, riet ihr Miss Woolf entschlossen und verteilte brühheißen süßen Tee. »Sie haben es hinter sich und sind ein bisschen früher gegangen.« Und Mr. Durkin sagte: »Sie waren alle eingetreten in die Welt des Lichts«, und Ursula dachte, sie sind alle eingetreten in die Welt des Lichts. Ursula war nicht überzeugt, dass die Toten irgendwo eintraten außer in eine schwarze und endlose Leere.
    »Also, hoffentlich muss ich nicht in der Scheiße sterben«, sagte Mr. Bullock prosaisch.
    Sie glaubte, dass sie diesen ersten Einsatz nie überwinden würde, doch die Erinnerung daran war bereits von vielen anderen Aktionen überlagert, und jetzt dachte sie kaum mehr daran.

    »Es sieht schlimm aus«, sagte Miss Woolf nüchtern. »Sie brauchen jemand, der leicht ist.«
    »Leicht?«, wiederholte Ursula.
    »Schlank«, sagte Miss Woolf geduldig.
    »Um dort reinzukriechen?«, sagte Ursula und schaute entsetzt auf den Kraterrand des Vulkans. Sie war nicht sicher, ob sie den Mumm hatte, in den Schlund der Hölle hinuntergelassen zu werden.
    »Nein, nein, nicht hier«, sagte Miss Woolf. »Kommen Sie mit.« Es hatte angefangen, ziemlich heftig zu regnen, und Ursula stolperte

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