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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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Männer am unteren Ende der Kette zu ihr. In der Mitte der Halde war ein Schacht nach unten gegraben worden (dann war es ein Vulkan und keine Halde, dachte Ursula). Viele der Männer des Rettungstrupps stammten aus dem Baugewerbe – Maurer, Hilfsarbeiter –, und Ursula fragte sich, ob sie es als komisch empfanden, über diese zerstörten Gebäude zu klettern, als wäre die Zeit irgendwie zurückgespult worden. Aber andererseits waren sie pragmatische, findige Männer, die nicht zu solchen Phantastereien neigten.
    Hin und wieder bat eine Stimme um Ruhe – was unmöglich war, solange der Luftangriff weiterging –, trotzdem hielt jeder still, während die Männer ganz oben auf der Halde konzentriert nach Lebenszeichen horchten. Es schien hoffnungslos, aber wenn es etwas gab, was der »Blitz« sie gelehrt hatte, dann dass die Menschen unter den unwahrscheinlichsten Umständen überlebten (und starben).
    Ursula schaute sich nach dem schwachen blauen Licht um, das die Position des für den Rettungstrupp Verantwortlichen kennzeichnete, und sah stattdessen Miss Woolf, die sich über die Trümmer einen Weg zu ihr bahnte. »Es sieht schlimm aus«, sagte sie nüchtern, als sie Ursula erreichte. »Sie brauchen jemand, der leicht ist.«
    »Leicht?«, wiederholte Ursula. Das Wort hatte aus unerfindlichem Grund keine Bedeutung.
    Sie hatte sich nach der Invasion der Tschechoslowakei 1939, als ihr plötzlich klar geworden war, dass Europa dem Untergang geweiht war, als freiwillige Luftschutzhelferin gemeldet. (»Was für eine düstere Kassandra du bist«, sagte Sylvie, aber Ursula arbeitete in der Luftschutzabteilung des Innenministeriums, sie sah die Zukunft kommen.) Während der seltsamen Dämmerung des Sitzkriegs waren die Luftschutzhelfer eine Art Witz gewesen, doch jetzt galten sie – laut Maurice – als »das Rückgrat von Londons Verteidigung«.
    Ihre Mitstreiter waren ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Miss Woolf, eine pensionierte Krankenhausoberschwester, war ihre Chefin. Sie war dünn und gerade wie ein Schürhaken, hatte einen eisengrauen ordentlichen Haarknoten und verfügte über natürliche Autorität. Der bereits erwähnte Mr. Durkin war ihr Stellvertreter, dann waren da noch Mr. Simms, der für das Beschaffungsministerium arbeitete, und Mr. Palmer, der Bankmanager war. Die beiden Letzteren hatten im Großen Krieg gekämpft und waren zu alt für diesen (Mr. Durkin rechtfertigte sich mit »Untauglichkeit aus medizinischen Gründen«). Dazu kam Mr. Armitage, der Opernsänger war, und da Opern nicht mehr aufgeführt wurden, unterhielt er sie mit »La donna è mobile« und »Largo al factotum«. »Nur die populären Arien«, vertraute er Ursula an. »Die meisten Leute mögen nichts Anspruchsvolles.«
    »Einen alten Al Bowlly jederzeit«, sagte Mr. Bullock. Der seinem Namen alle Ehre machende Mr. Bullock (John) war in Miss Woolfs Worten »etwas fragwürdig«. Er war eine stattliche Erscheinung – er war Ringer und nahm an Wettkämpfen teil, er hob Gewichte in einem örtlichen Sportverein und frequentierte mehrere verrufene Nachtclubs. Zudem war er mit ein paar ziemlich glamourösen »Tänzerinnen« bekannt. Eine oder zwei hatten bei ihm im Posten »vorbeigeschaut« und waren von Miss Woolf verscheucht worden wie Hühner. (»Tänzerinnen, dass ich nicht lache«, sagte sie.)
    Und zu guter Letzt war da noch Herr Zimmermann (»Gabi, bitte«, sagte er, aber niemand hielt sich daran), ein Orchestergeiger aus Berlin, »unser Flüchtling«, wie sie ihn nannten (Sylvie nahm Evakuierte auf, die ebenfalls nach ihrem Status benannt wurden). Er war 35 während einer Orchestertour »von Bord gegangen«. Miss Woolf hatte sich stark dafür gemacht, dass Herr Zimmermann und seine Violine nicht interniert oder, schlimmer noch, über die tödlichen Wasser des Atlantiks verschifft wurden. Sie alle folgten Miss Woolfs Beispiel und sprachen ihn nicht mit »Mister«, sondern mit »Herr« an. Ursula wusste, dass Miss Woolf ihn so nannte, damit er sich hier zu Hause fühlte, aber sie erreichte damit nur, dass er Ausländer blieb.
    Miss Woolf hatte Herrn Zimmermann über ihre Arbeit für den Kindertransport kennengelernt. Ursula war sich nie sicher, ob Miss Woolf eine einflussreiche Frau war oder sich einfach weigerte, ein Nein als Antwort zu akzeptieren. Vielleicht beides.
    »Was für ein kultivierter Haufen wir doch sind, was?«, sagte Mr. Bullock sarkastisch. »Warum führen wir nicht was auf, statt einen Krieg zu

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