Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
Vom Netzwerk:
etwas gehört zu haben, doch der bleiche tote Mann war so still wie zuvor. »Hallo«, sagte sie noch einmal zu ihm. Sie dachte, dass es Mr. McColl aus der nächsten Straße sein könnte. Vielleicht hatte er jemanden besucht. Pech gehabt. Sie war hundemüde, man konnte die Toten fast um ihre ewige Ruhe beneiden.
    Als sie aus dem Loch kroch, kam gerade die mobile Kantine an. Sie spülte ihren Mund mit Tee aus und spuckte Ziegelstaub aus. »Sie waren bestimmt mal eine richtige Dame«, sagte Mr. Palmer und lachte.
    »Beleidigen Sie mich nicht«, sagte Ursula und lachte ebenfalls. »Ich spucke auf sehr damenhafte Art.« Die Männer vom Rettungstrupp hackten und schaufelten noch immer an der Halde herum, ohne sichtbare Ergebnisse, doch die Lage entspannte sich, und Miss Woolf schickte sie zum Posten zurück, um sich auszuruhen. Auf der Halde rief jemand nach einem Seil, um jemand anderen abzuseilen oder heraufzuziehen oder beides. (»Eine Frau, glauben sie«, sagte Mr. Durkin.)
    Sie war vollkommen fertig und konnte kaum mehr einen Fuß vor den anderen setzen. Sie wich den Trümmern so gut wie möglich aus und war noch keine zehn Meter gegangen, als jemand sie am Arm packte und so heftig zurückriss, dass sie gestürzt wäre, hätte dieselbe Person sie nicht festgehalten. »Vorsicht, Miss Todd«, brummte eine Stimme.
    »Mr. Bullock?« Im Posten beunruhigte Mr. Bullock sie immer ein bisschen, er wirkte so unanfechtbar, aber hier an diesem dunklen Ort war er komischerweise harmlos. »Was ist los?«, sagte sie. »Ich bin fürchterlich müde.«
    Er richtete den Schein seiner Taschenlampe nach vorn. »Was sehen Sie?«, fragte er.
    »Ich kann nichts sehen.«
    »Weil nichts da ist.« Sie schaute konzentrierter. Ein enormer Krater – ein bodenloses Loch. »Acht, vielleicht zehn Meter tief«, sagte Mr. Bullock. »Und Sie wären beinahe hineinspaziert.«
    Er begleitete sie zum Posten. »Sie sind übermüdet«, sagte er. Den ganzen Weg hielt er sie am Arm, und an seinem Griff spürte sie die Kraft seiner Muskeln.
    Sie sank sofort auf ein Feldbett und schlief nicht ein, sondern wurde ohnmächtig. Sie erwachte, als um sechs Uhr Entwarnung gegeben wurde, und fühlte sich, als hätte sie Tage und nicht nur drei Stunden geschlafen.
    Mr. Palmer war da und kochte Tee. Sie konnte ihn sich zu Hause vorstellen, wie er in Hausschuhen und mit Pfeife dasaß und Zeitung las. Es schien absurd, dass er hier war. »Da.« Er reichte ihr eine Tasse. »Sie sollten nach Hause gehen, meine Liebe«, sagte er, »es hat aufgehört zu regnen«, als wäre es der Regen gewesen, der ihr die Nacht vermasselt hatte, und nicht die Luftwaffe.

    Statt sofort nach Hause zu gehen, kehrte sie zu der Halde zurück, um zu sehen, wie der Stand der Dinge war. Im Tageslicht wirkte sie anders, ihre Form merkwürdig vertraut. Sie erinnerte sie an etwas, aber es fiel ihr beim besten Willen nicht ein, an was.
    Es war ein Bild der Verwüstung, die ganze Straße war mehr oder weniger verschwunden, doch an der Halde, der ersten Halde herrschte noch immer eine Aktivität wie in einem Bienenstock. Es wäre ein gutes Motiv für einen Kriegsmaler, dachte sie. Die Arbeiter auf der Halde wäre ein guter Titel. Bea Shawcross hatte Kunst studiert und abgeschlossen, als der Krieg anfing. Ursula fragte sich, ob sie den Krieg darstellte oder versuchte, ihn zu transzendieren.
    Sehr vorsichtig begann sie hinaufzusteigen. Einer vom Rettungstrupp streckte ihr die Hand hin. Ein neuer Trupp war da, doch so wie manche aussahen, arbeiteten auch noch die Männer aus der Nacht. Ursula verstand. Es war schwer, einen Einsatzort zu verlassen, wenn man das Gefühl hatte, dass er einem »gehörte«.
    Um den Vulkankrater herrschte plötzlich Aufregung, als endlich die Ernte der behutsamen nächtlichen Schinderei eingebracht wurde. Eine Frau, ein Seil unter den Armen (nicht unbedingt behutsam) durchgeführt, wurde aus der engen Öffnung gezogen und dann die Halde hinuntergetragen.
    Sie war nahezu schwarz vor Schmutz und wachte kurz aus ihrer Bewusstlosigkeit auf. Schwer verletzt, aber am Leben, auch wenn ihr Leben an einem seidenen Faden hing. Unten wurde sie in den Krankenwagen geladen, der dort geduldig stand.
    Ursula stieg wieder hinunter. Unten lag eine zugedeckte Leiche und wartete auf den Leichenwagen. Ursula hob das Tuch über dem Gesicht an und sah den bleichgesichtigen Mann von letzter Nacht. Bei Tageslicht erkannte sie Mr. McColl aus der Nummer zehn zweifelsfrei. »Hallo«, sagte sie. Bald

Weitere Kostenlose Bücher