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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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unter Mühen in Miss Woolfs Schlepptau über den zerklüfteten, aufgerissenen Boden, auf dem jedes nur erdenkliche Hindernis lag. Ihre Taschenlampe war so gut wie nutzlos. Sie blieb mit dem Fuß im Rad eines Fahrrads stecken und fragte sich, ob jemand damit gefahren war, als die Bombe einschlug.
    »Hier«, sagte Miss Woolf. Es war eine andere Halde, genauso groß wie die erste. Befand sie sich in einer anderen oder noch in derselben Straße? Ursula hatte jegliche Orientierung verloren. Wie viele Halden gab es? Ein albtraumhaftes Szenario blitzte in ihrem Kopf auf – ganz London zu einer gigantischen Schutthalde reduziert.
    Diese Halde war kein Vulkan, der Rettungstrupp grub auf einer Seite einen horizontalen Schacht. Sie war stabiler, sie gingen den Schutt mit Hacken und Schaufeln an.
    »Da drin ist so was wie ein Loch«, sagte Miss Woolf und nahm Ursulas Hand fest in ihre, als wäre Ursula ein widerwilliges Kind, und führte sie hin. Ursula sah kein Loch. »Es ist sicher, denke ich, Sie müssen sich nur durchzwängen.«
    »Ein Tunnel?«
    »Nein, es ist nur ein Loch. Es fällt ein bisschen ab, wir glauben, dass jemand da unten ist. Es geht nicht weit runter«, fügte sie beruhigend hinzu. »Kein Tunnel«, sagte sie noch einmal. »Kriechen Sie mit dem Kopf voraus rein.« Der Rettungstrupp hörte auf zu hacken und wartete ziemlich ungeduldig auf Ursula.
    Sie musste den Helm abnehmen und die Taschenlampe ungeschickt vor sich halten, um sich in das Loch zu zwängen. Entgegen dem, was Miss Woolf gesagt hatte, erwartete sie einen Tunnel, sah jedoch sofort einen höhlenartigen Raum vor sich. Sie hätte eine Höhlenforscherin sein können. Sie war erleichtert, als sie spürte, wie vier unsichtbare Hände nach Hughs altem Ledergürtel griffen. Sie bewegte die Taschenlampe in dem Versuch, etwas zu sehen. »Hallo?«, rief sie, als sie mit der Taschenlampe nach unten leuchtete. Der Lichtschein fiel auf ein planloses Gitterwerk aus verdrehten Gasleitungen und Holz, das wie Zündhölzer gesplittert war. Sie konzentrierte sich auf eine Lücke in dem chaotischen Gewirr und versuchte, in der Düsternis etwas zu erkennen. Ein Gesicht, das Gesicht eines Mannes, bleich und gespensterhaft, schien aus der Dunkelheit aufzusteigen wie eine Vision, ein Gefangener in einem Verließ. Vielleicht befand sich an dem Gesicht noch ein Körper.
    »Hallo?«, sagte sie, als würde der Mann antworten, doch dann sah sie, dass ein Teil seines Kopfes fehlte.
    »Jemand dort unten?«, fragte Miss Woolf hoffnungsvoll, als sie rückwärts aus dem Loch kroch.
    »Ein Toter.«
    »Leicht rauszuholen?«
    »Nein.«

    Der Regen machte alles noch widerlicher, falls das möglich war, und verwandelte den nassen Ziegelstaub in eine Art klebrigen Sand. Nachdem sie ein paar Stunden unter diesen Bedingungen gearbeitet hatten, waren sie von Kopf bis Fuß damit beschmiert. Es war zu ekelhaft, um darüber nachzudenken.
    Es kamen zu wenige Krankenwagen, sie wurden von einem Einschlag in der Cromwell Road aufgehalten, ebenso der Arzt und die Krankenschwester, die hier sein sollten, und es erwies sich als nützlich, dass Miss Woolf sie in Erster Hilfe ausgebildet hatte. Ursula schiente einen gebrochenen Arm, bandagierte eine Kopfverletzung und ein Auge und Mr. Simms’ Knöchel, den er sich auf dem unebenen Boden gezerrt hatte. Sie brachte Zettel an zwei bewusstlosen Überlebenden (Kopfverletzungen, gebrochener Oberschenkelknochen, gebrochenes Schlüsselbein, gebrochene Rippen, ein vermutlich gebrochenes Becken) und mehreren Toten an (das war einfacher, sie waren schlichtweg tot) und überprüfte dann alles noch einmal für den Fall, dass sie sie falsch beschriftet hatte und die Toten ins Krankenhaus und die Lebenden in die Leichenhalle schickte. Sie dirigierte zahllose Überlebende zur nächsten Sammelstelle und begleitete Verwundete zur Erste-Hilfe-Station, die mit Miss Woolf besetzt war.
    »Ist Anthony in der Nähe?«, fragte sie, als sie Ursula sah. »Er soll eine mobile Kantine holen.« Ursula schickte Tony mit diesem Auftrag los. Nur Miss Woolf nannte ihn Anthony. Er war dreizehn, Pfadfinder und ihr Botenjunge, der mit seinem Fahrrad durch die mit Schutt und Glasscherben übersäten Straßen flitzte. Wenn Tony ihr Kind gewesen wäre, hätte Ursula ihn weit weg von diesem Albtraum gebracht, statt ihn in seine Tiefen hineinzuziehen. Unnötig zu erwähnen, dass er begeistert war.
    Nachdem sie mit Tony gesprochen hatte, kroch Ursula erneut in das Loch, weil jemand meinte,

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