Die Unvollendete: Roman (German Edition)
wäre er ein alter Freund. Miss Woolf hatte sie angewiesen, ihn zu kennzeichnen, doch als sie nach ihrem Block suchte, musste sie feststellen, dass sie ihn verloren und nichts zum Schreiben hatte. Als sie in einer Tasche kramte, fand sie ihren Lippenstift. Not kennt kein Gebot, hörte sie Sylvie sagen.
Sie überlegte, ob sie auf Mr. McColls Stirn schreiben sollte, doch es schien ihr pietätlos (pietätloser als der Tod?, fragte sie sich), und deckte stattdessen einen Arm ab, spuckte auf ihr Taschentuch und rieb eine Stelle sauber, als wäre er ein kleiner Junge. Sie schrieb mit dem Lippenstift seinen Namen und seine Adresse auf seinen Arm. Blutrot, eine angemessene Farbe.
»Na dann«, sagte sie. »Wir werden uns wohl nicht wiedersehen.«
Sie machte einen Bogen um den heimtückischen Krater von letzter Nacht und sah Miss Woolf, die an einem aus den Trümmern geretteten Esstisch saß, als befände sie sich in einem Büro, und den Leuten erklärte, was sie als Nächstes tun sollten – wo sie Essen und Obdach finden, Kleider und Lebensmittelkarten erhalten würden und so weiter. Miss Woolf war freundlich zu den Leuten, doch nur der Himmel wusste, wann sie zum letzten Mal geschlafen hatte. Die Frau hatte eine Seele aus Eisen, daran bestand kein Zweifel. Ursula mochte Miss Woolf ungemein und respektierte sie mehr als alle anderen, die sie kannte, mit Ausnahme von Hugh vielleicht.
Die Leute in der Schlange kamen aus einem großen Schutzraum, manche von ihnen blinzelten im Tageslicht wie nachtaktive Tiere und mussten feststellen, dass sie kein Zuhause mehr hatten. Der Schutzraum befand sich an der falschen Stelle, in der falschen Straße, dachte Ursula. Sie brauchte ein paar Augenblicke, bis sie sich neu orientiert hatte und ihr bewusst war, dass sie die ganze Nacht über geglaubt hatte, in einer anderen Straße zu sein.
»Sie haben die Frau rausgeholt«, sagte sie zu Miss Woolf.
»Lebt sie noch?«
»Mehr oder weniger.«
Als sie endlich in Phillimore Gardens ankam, war Millie bereits auf und angezogen. »Wie ist es dir ergangen?«, sagte sie. »In der Kanne ist noch Tee.« Sie goss eine Tasse ein und reichte sie Ursula.
»Ach, weißt du«, sagte Ursula und nahm die Tasse. Der Tee war lauwarm. Sie zuckte die Achseln. »Ziemlich schrecklich. Ist es schon so spät? Ich muss zur Arbeit.«
Am nächsten Tag war sie überrascht, eins von Miss Woolfs Protokollen auf ihrem Schreibtisch vorzufinden, verfasst in ihrer deutlichen Oberschwesternhandschrift. Manchmal enthielt eine braungelbe Mappe ein geheimnisvolles Durcheinander, und Ursula wusste nie genau, warum manche Mappen bei ihr landeten.
05.00 Vorläufiger Einsatzbericht. Lagebericht. 55 Verwundete ins Krankenhaus, 30 Tote, 3 Vermisste. Sieben Häuser vollständig zerstört, ungefähr 120 obdachlos. 2 Notfallsanitätermannschaften, 2 Krankenwagen, 2 Rettungstrupps, 2 Suchtrupps, ein Hund noch im Einsatz. Die Arbeiten werden fortgesetzt.
Ursula hatte keinen Hund gesehen. Es war nur einer der vielen Einsätze in London in jener Nacht gewesen, und sie nahm den Stapel Papiere und sagte: »Miss Fawcett, können Sie die erfassen?« Sie konnte es kaum erwarten, dass der Tee und das zweite Frühstück gebracht wurden.
Sie aßen draußen auf der Terrasse zu Mittag. Kartoffelsalat mit Eiern, Rettiche, grüner Salat, Tomaten, sogar eine Gurke. »Alles von der holden Hand unserer Mutter gezogen«, sagte Pamela. Es war wirklich die beste Mahlzeit, die Ursula seit langem gegessen hatte. »Und zum Nachtisch gibt es Apfelpudding«, sagte Pamela.
Sie saßen allein am Tisch. Sylvie war zur Tür gegangen, weil es geklingelt hatte, und Hugh war noch nicht wieder zurück. Er kümmerte sich um einen Blindgänger, der angeblich auf ein Feld auf der anderen Seite des Dorfes gefallen war.
»Neugier ist der Katze Tod«, hatte Sylvie gesagt, und an Ursula gewandt: »Wir warten mit dem Essen nicht auf ihn.«
Auch die Jungen aßen al fresco – auf dem Rasen liegend, Büffelbraten und Succotash (oder, in der wirklichen Welt, Sandwiches mit Corned Beef und hart gekochte Eier). Sie hatten ein muffiges altes Wigwam aufgebaut, das sie im Schuppen gefunden hatten, und ein gesetzloses Cowboys-und-Indianer-Spiel gespielt, bis der Küchenwagen (oder Bridget mit einem Tablett) aufgetaucht war.
Pamelas Söhne waren die Cowboys, und die Evakuierten waren überglücklich, Apachen zu verkörpern. »Ich glaube, das entspricht ihrem Wesen«, sagte Pamela. Sie hatte ihnen Stirnbänder aus
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