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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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führen?« (»Mr. Bullock ist ein Mann mit starken Gefühlen«, sagte Miss Woolf zu Ursula. Und ein starker Trinker, dachte Ursula. Stark in jeder Beziehung.)
    Ein kleiner Saal, der den Methodisten gehörte, war von Miss Woolf, (selbst Methodistin) zu ihrem Posten bestimmt worden, und sie hatten ihn mit zwei Feldbetten, einen kleinen Ofen, um Tee zu kochen, und einem Sortiment weicher Sessel und harter Stühle ausgestattet. Verglichen mit anderen, verglichen mit vielen anderen Posten war er luxuriös.
    Mr. Bullock tauchte eines Abends mit einem Tisch zum Kartenspielen auf, der mit grünem Filz bezogen war, und Miss Woolf erklärte sich als Bridgespielerin. Mr. Bullock hatte ihnen in der Flaute zwischen dem Fall Frankreichs und den ersten Luftangriffen Anfang September Poker beigebracht. »Ein Falschspieler«, sagte Mr. Simms. Sowohl er als auch Mr. Palmer hatten mehrere Schillinge an Mr. Bullock verloren. Miss Woolf andererseits hatte zwei Pfund gewonnen, als der »Blitz« begann. Ein amüsierter Mr. Bullock zeigte sich überrascht, dass sich Methodisten an Glücksspielen beteiligen durften. Mit ihrem Gewinn habe sie eine Dart-Scheibe gekauft, Mr. Bullock habe also keinen Grund, sich zu beschweren, sagte sie. Eines Tages, als sie in einer Ecke des Saals ein paar Kisten aufräumten, entdeckten sie dahinter ein Klavier, und Miss Woolf – die sich als Frau mit vielen Talenten erwies – spielte ziemlich gut. Obwohl sie mehr zu Chopin und Liszt neigte, war sie nur allzu bereit, »ein paar Lieder runterzuhämmern« – Mr. Bullocks Worte –, so dass sie alle mitsingen konnten.
    Sie hatten ihren Posten mit Sandsäcken gesichert, obwohl keiner glaubte, dass sie etwas nützen würden, sollten sie getroffen werden. Abgesehen von Ursula, die Vorsichtsmaßnahmen für eine überaus vernünftige Idee hielt, waren alle anderen einhellig der Ansicht von Mr. Bullock, »wenn dein Name drauf steht, dann steht dein Name drauf«, eine Form von buddhistischer Abgeklärtheit, die Dr. Kellets Bewunderung gewonnen hätte. Im Sommer war in der Times eine Todesanzeige erschienen. Ursula war froh, dass Dr. Kellet nicht noch einen Krieg erleben musste. Er hätte ihn nur an Guy erinnert, sinnloserweise gefallen bei Arras.
    Alle waren Teilzeitfreiwillige, abgesehen von Miss Woolf, die bezahlt wurde und Vollzeit arbeitete und ihre Pflichten sehr ernst nahm. Sie unterzog sie einem strengen Drill und sorgte dafür, dass sie ihre Ausbildung nicht vernachlässigten – wie man bei Gasangriffen vorging, Brandbomben löschte, ein brennendes Gebäude betrat, Bahren belud, Schienen herstellte, Verbände anlegte. Sie fragte sie zum Inhalt der Handbücher aus, die sie ihnen zu lesen aufgab, und sie legte großen Wert darauf, dass sie lernten, wie man Körper mit Schildchen versah, tote wie lebende, so dass sie, versehen mit der korrekten Information, wie Pakete ins Krankenhaus oder die Leichenhalle geschickt werden konnten. Sie hatten unter Simulierung eines Luftangriffs auch mehrere Übungen im Freien gemacht. (»Schauspielerei«, spottete Mr. Bullock, dem es nicht gelang, die nötige Begeisterung aufzubringen.) Ursula spielte zweimal das Opfer, einmal musste sie so tun, als hätte sie ein gebrochenes Bein, und das andere Mal, als wäre sie bewusstlos. Dann war sie »auf der anderen Seite« und musste als Helferin mit einem Mr. Armitage fertigwerden, der jemanden mit einem hysterischen Schock darstellte. Sie nahm an, dass ihn seine Bühnenerfahrung zu einem so enervierend authentischen Auftritt befähigte. Es war nicht einfach, ihn am Ende der Übung davon zu überzeugen, die Rolle wieder abzulegen.
    Sie mussten wissen, wer in welchem Gebäude ihres Sektors wohnte, sie mussten wissen, ob die Bewohner einen eigenen Schutzraum hatten oder einen öffentlichen aufsuchten oder ob sie zu fatalistisch waren und in der Wohnung blieben. Sie mussten wissen, ob jemand verreist oder umgezogen war, geheiratet, ein Baby bekommen hatte oder gestorben war. Sie mussten wissen, wo Hydranten waren, Sackgassen, enge Nebenstraßen, Keller, Sammelstellen.
    »Patrouillieren und die Augen offen halten«, lautete Miss Woolfs Devise. Meist patrouillierten sie zu zweit bis Mitternacht in den Straßen, wenn normalerweise nichts los war, und wenn später in ihrem Sektor keine Bomben fielen, folgte ein höflicher Streit, wer sich auf die Feldbetten legen durfte. Wenn »ihre Straßen« allerdings bombardiert wurden, dann hieß es in Miss Woolfs Worten »alle Mann an

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