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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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hinunterstürzen und -rollen, der Vorbote einer Lawine. Schutt, nicht Geröll. Eine ganze Halde davon. Der Schutt, der sich angehäuft hatte, war alles, was von einem Haus, beziehungsweise mehreren zermalmten Häusern übrig war. Eine halbe Stunde zuvor waren die Trümmer Wohnungen gewesen, und diese Wohnungen waren jetzt ein höllisches Chaos aus Ziegeln, gesplitterten Balken und Dielen, Möbeln, Bildern, Teppichen, Bettzeug, Büchern, Geschirr, Linoleum, Glas. Menschen. Die zerschmetterten Fragmente von Leben, die nie wieder ganz sein würden.
    Das Rumpeln wurde leiser und hörte schließlich ganz auf, die Lawine war abgewendet, und dieselbe Stimme rief: »In Ordnung! Macht weiter!« Es war eine mondlose Nacht, die verdunkelten Taschenlampen der Rettungstrupps mit dem leichten Gerät waren die einzigen Lichtquellen, gespenstische Irrlichter, die sich auf der Halde bewegten. Der andere Grund für die dichte heimtückische Dunkelheit war die dicke Wolke aus Rauch und Staub, die wie ein Vorhang widerwärtiger Marienseide in der Luft hing. Der Gestank war wie immer ekelerregend. Es war nicht nur der Geruch nach Leuchtgas und Sprengstoff, sondern auch der abnorme Geruch, der sich entwickelte, wenn ein Haus in die Luft flog. Sie wurde den Geruch nicht mehr los. Sie hatte sich ein altes Seidentuch über Mund und Nase gebunden, doch das verhinderte nicht, dass ihr der Staub und der Gestank in die Lunge drangen. Tod und Verfall waren die ganze Zeit auf ihrer Haut, in ihrem Haar, ihrer Nase, ihrer Lunge, unter ihren Fingernägeln. Sie waren zu einem Teil von ihr geworden.
    Vor kurzem erst hatten sie Schutzanzüge bekommen, unvorteilhafte marineblaue Overalls. Bis dahin hatte Ursula den Schutzanzug für den Keller getragen, den ihr Sylvie bei Simpson’s kurz nach Kriegsbeginn gekauft hatte. Sie vervollständigte den Overall mit einem alten Ledergürtel von Hugh, an den sie ihre »Accessoires« hängte – Taschenlampe, Gasmaske, Erste-Hilfe-Päckchen und Notizblock. In einer Tasche befanden sich ein Taschenmesser und ein Taschentuch, in der anderen ein Paar dicke Lederhandschuhe und ein Lippenstift. »Ah, das ist eine gute Idee«, sagte Mrs. Wolf, als sie das Taschenmesser sah. Machen wir uns nichts vor, dachte Ursula, trotz der vielen Vorschriften improvisierten sie.
    Mr. Durkin, denn er war es tatsächlich, löste sich aus der Düsternis und dem rauchigen Nebel. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe seinen Notizblock an, wobei der schwache Schein die Seite kaum erhellte. »Eine Menge Leute leben in dieser Straße«, sagte er und spähte auf die Liste mit den Namen und den Nummern der Häuser, die keinerlei Beziehung mehr zu der verwüsteten Umgebung aufwiesen. »Die Wilsons wohnen in Nummer eins«, sagte er, als würde es irgendwie weiterhelfen, wenn sie ganz vorn begannen.
    »Es gibt keine Nummer eins mehr«, sagte Ursula. »Es gibt überhaupt keine Nummern mehr.« Die Straße war nicht wiederzuerkennen, alles Vertraute war zerstört. Auch am helllichten Tag wäre sie nicht mehr wiederzuerkennen. Es war keine Straße mehr, es war nur noch »eine Halde«. Sechs Meter hoch, vielleicht höher, Bretter und Leitern daran gelehnt, damit die Männer vom Rettungstrupp hinaufklettern konnten. Die Menschenkette, die sie bildeten, hatte etwas Primitives, sie reichten Eimer mit Schutt von Hand zu Hand, von oben auf der Halde nach unten. Sie hätten die Sklaven sein können, die die Pyramiden erbauten – oder in diesem Fall sie ausgruben. Ursula fielen plötzlich die Blattschneiderameisen aus dem Regent’s Park Zoo ein, von denen jede pflichtbewusst ihre kleine Last trug. Waren die Ameisen wie die anderen Tiere evakuiert oder einfach im Park freigelassen worden? Die Insekten waren aus den Tropen und würden das strenge Klima im Regent’s Park vielleicht nicht überleben. Sie hatte Millie im Park gesehen in einer Freiluftaufführung von Ein Mittsommernachtstraum im Sommer 38.
    »Miss Todd?«
    »Ja. Entschuldigung, Mr. Durkin, ich war mit den Gedanken gerade ganz woanders.« Das passierte oft dieser Tage – sie befand sich an diesen schrecklichen Orten und dachte an schöne Momente in der Vergangenheit. Kleine Lichtblicke in der Dunkelheit.
    Sie gingen vorsichtig zur Halde. Mr. Durkin reichte ihr die Liste mit den Bewohnern der Straße und half mit den Eimern. Niemand grub wirklich auf der Halde, sie trugen den Schutt vielmehr mit den Händen ab wie gewissenhafte Archäologen. »Ein bisschen heikel da oben«, sagte einer der

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