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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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Tageslicht gekommen, und Sylvie hätte ihn für das Zerbrechen der Eier hart bestraft. Sie hatte ihn schon einmal dabei erwischt, wie er Eier stahl, und ihn dafür geohrfeigt. Sylvie sagte, dass sie die Natur »verehren« und nicht zerstören sollten, aber Verehrung war in Maurice’ eigener Natur leider nicht vorgesehen.
    »Er lernt Geige, nicht wahr – Simon?«, sagte Sylvie. »Juden sind normalerweise sehr musikalisch, oder? Vielleicht sollte ich ihm ein paar Partituren geben, irgend so etwas.« Die Diskussion der Gefahren, das Judentum zu beleidigen, hatte am Frühstückstisch stattgefunden. Hugh schien immer vage erstaunt, wenn seine Kinder am selben Tisch saßen wie er. Er hatte erst mit seinen Eltern gefrühstückt, als er zwölf Jahre alt war und für reif genug befunden wurde, das Kinderzimmer zu verlassen. Er war das robuste Ergebnis einer effizienten Kinderfrau, eines Haushalts innerhalb eines Haushalts in Hampstead. Das Kleinkind Sylvie andererseits hatte spät zu Abend gegessen, Canard à la presse, auf einem hohen Turm aus Kissen sitzend, eingelullt von flackerndem Kerzenlicht und blitzendem Tafelsilber, während ihre Eltern über ihren Kopf hinweg Konversation machten. Jetzt mutmaßte sie, dass es keine ganz gewöhnliche Kindheit gewesen war.

    Der alte Tom hob laut eigener Aussage einen Entwässerungsgraben für ein neues Spargelbeet aus. Hugh hatte den Wisden längst beiseitegelegt und Himbeeren gepflückt, die sich jetzt in einer großen weißen Emailschüssel befanden. Pamela und Ursula erkannten die Schüssel als diejenige, in der Maurice bis vor kurzem Kaulquappen gehalten hatte, doch keine von beiden erwähnte diesen Umstand. Hugh schenkte sich ein Glas Bier ein und sagte: »Macht durstig, die Arbeit in der Landwirtschaft«, und alle lachten. Nur der alte Tom nicht.
    Mrs. Glover kam heraus und forderte den alten Tom auf, ein paar Kartoffeln als Beilage für ihre Rindfleischschnitten auszugraben. Beim Anblick der Kaninchen schnaufte und keuchte sie. »Die sind nicht einmal groß genug für einen Eintopf.« Pamela schrie auf und musste mit einem Schluck von Hughs Bier beruhigt werden.
    Pamela und Ursula machten in einem stillen Winkel des Gartens ein Nest aus Gras und Watte, schmückten es mit abgefallenen Rosenblütenblättern und setzten vorsichtig die Kaninchenbabys hinein. Pamela sang ihnen ein Schlaflied, sie konnte die Töne gut halten, doch sie schliefen bereits, seitdem George Glover sie ihnen gegeben hatte.
    »Ich glaube, sie sind vielleicht noch zu klein«, sagte Sylvie.
    »Zu klein wofür?«, fragte Ursula, aber Sylvie sagte es nicht.

    Sie saßen auf dem Rasen und aßen die Himbeeren mit Sahne und Zucker. Hugh blickte zum blauen, blauen Himmel empor und sagte: »Habt ihr den Donner gehört? Es wird ein heftiges Gewitter geben, ich spüre es. Sie nicht, alter Tom?« Er hatte die Stimme gehoben, damit ihn der alte Tom in dem weit entfernten Gemüsebeet hören konnte. Hugh glaubte, dass sich der alte Tom als Gärtner mit dem Wetter auskennen musste. Der alte Tom sagte nichts und grub weiter.
    »Er ist taub«, sagte Hugh.

    »Nein, ist er nicht«, sagte Sylvie und mischte ein Rosarot, indem sie die Himbeeren, schön wie Blut, in der dicken Sahne zerdrückte, und dachte dabei erstaunlicherweise an George Glover. Ein Sohn der Erde. Seine starken breiten Hände, seine schönen Apfelschimmel, die aussahen wie große Schaukelpferde, und die Art und Weise, wie er auf der Wiese gelegen und gegessen hatte, in der gleichen Haltung wie Michelangelos Adam in der Sixtinischen Kapelle, allerdings langte George nach einem weiteren Stück Schweinefleischpastete und nicht nach der Hand seines Schöpfers. (Als Sylvie mit ihrem Vater Llewellyn Italien bereist hatte, war sie überrascht gewesen über die Menge an männlichem Fleisch, die man dort als Kunst betrachten konnte.) Sie stellte sich vor, wie ihr George Glover Äpfel aus der Hand fraß, und lachte.
    »Was?«, fragte Hugh, und Sylvie sagte: »Was für ein gutaussehender Junge George Glover ist.«
    »Dann muss er adoptiert sein«, sagte Hugh.

    An diesem Abend stellte Sylvie Forster für weniger zerebrale Aktivitäten hintan und schlang im ehelichen Bett überhitzte Gliedmaßen um ihren Mann, mehr eine keuchende Hirschkuh als eine jauchzende Lerche. Sie dachte dabei nicht an Hughs geschmeidigen, drahtigen Körper, sondern an die großartigen, brünierten zentaurhaften Gliedmaßen von George Glover. »Du bist heute sehr …«, sagte ein

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