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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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strickte. Alle Frauen des Haushalts verbrachten jetzt unverhältnismäßig viel Zeit mit Stricken – Schals und Fäustlinge, Fingerhandschuhe und Socken, Unterhemden und Pullover –, damit ihre Männer nicht froren.
    Mrs. Glover saß abends neben dem Küchenherd und strickte riesige Handschuhe, groß genug für die Hufe von Georges Ackergäulen. Sie waren natürlich nicht für Samson und Nelson, sondern für George, der sich als einer der Ersten freiwillig gemeldet hatte, wie Mrs. Glover bei jeder Gelegenheit stolz betonte, was Sylvie wiederum die Laune verdarb. Sogar Marjorie, die Küchenhilfe, war von der Strickwut erfasst worden und arbeitete nach dem Mittagessen an etwas, was wie ein Spüllappen aussah und eine großzügige Auslegung der Bezeichnung »Stricken« erforderte. »Mehr Löcher als Wolle«, lautete Mrs. Glovers Verdikt, bevor sie sie ohrfeigte und wieder an die Arbeit schickte.
    Bridget strickte missgestalte Socken – um nichts in der Welt konnte sie eine Ferse stricken – für ihre neue Liebe. Sie hatte einem Stallburschen von Ettringham Hall namens Sam Wellington »ihr Herz geschenkt«. »Ja, klar, er ist ein alter Stinkstiefel«, sagte sie und lachte sich mehrmals am Tag halb tot über ihren Witz, als würde sie ihn zum ersten Mal erzählen. Bridget schrieb Sam Wellington sentimentale Postkarten, auf denen Frauen in heimischen Wohnzimmern an chenillebedeckten Tischen saßen und weinten, während Engel über ihnen in der Luft schwebten. Sylvie hatte angedeutet, dass Bridget einem Mann im Krieg vielleicht etwas heiterere Karten schicken sollte.
    Auf Bridgets kärglich ausgestatteter Frisierkommode stand ein Foto, eine Studioaufnahme, von Sam Wellington. Es nahm den Ehrenplatz neben dem alten emaillierten Bürste-und-Kamm-Set ein, das Sylvie ihr vererbt hatte, als Hugh ihr zum Geburtstag eine silberne Garnitur schenkte.
    Ein vergleichbares, obligatorisches Porträt von George zierte Mrs. Glovers Nachttisch. In eine Uniform gezwängt und unsicher vor dem Studiohintergrund, der Sylvie an die Amalfi-Küste erinnerte, ähnelte George Glover keineswegs mehr dem sixtinischen Adam. Sylvie dachte an all die eingerückten Männer, die das gleiche Ritual auf sich genommen hatten, ein Andenken für ihre Mütter oder Liebsten, das einzige Foto, das von manchen von ihnen je aufgenommen würde. »Er könnte getötet werden«, sagte Bridget von ihrem Beau, »und dann vergesse ich vielleicht, wie er ausgesehen hat.« Sylvie hatte jede Menge Fotos von Hugh. Er führte ein gut dokumentiertes Leben.
    Alle Kinder außer Pamela waren oben. Teddy schlief in seinem Bettchen oder lag wach in seinem Bettchen, in welchem Zustand er sich auch befand, er beklagte sich nicht. Was Maurice und Ursula taten, wusste Sylvie nicht und interessierte sie nicht, da es bedeutete, dass im Wohnzimmer Ruhe herrschte, abgesehen von einem gelegentlichen, verdächtigen dumpfen Schlag auf die Zimmerdecke und einem metallischen Knallen schwerer Pfannen in der Küche, wo Mrs. Glover ihre Gefühle – bezüglich des Kriegs oder Majories Inkompetenz oder beider – kundtat.
    Seitdem die Kämpfe auf dem Kontinent begonnen hatten, aßen sie im Wohnzimmer, der Regency-Revival-Esstisch galt in ernsten Kriegszeiten als zu extravagant, und deckten stattdessen den kleinen Wohnzimmertisch. (»Das Esszimmer nicht zu benutzen wird den Krieg nicht gewinnen«, sagte Mrs. Glover.)
    Sylvie machte eine Handbewegung, und Pamela befolgte gehorsam den unausgesprochenen Befehl ihrer Mutter, ging hinter Bridget um den Tisch und legte das Besteck an die richtige Stelle. Bridget konnte rechts und links und oben und unten nicht unterscheiden.
    Pamelas Unterstützung der Expeditionsstreitkräfte hatte die Form einer Massenproduktion von graubraunen Schals von außergewöhnlicher und unpraktischer Länge angenommen. Sylvie war angenehm überrascht von der Fähigkeit ihrer älteren Tochter, Monotonie zu ertragen. Sie käme ihr in ihrem zukünftigen Leben zupass. Sylvie ließ eine Masche fallen und fluchte leise, und Pamela und Bridget erschraken. »Welche Nachrichten?«, fragte sie endlich widerwillig.
    »Über Norfolk wurden Bomben abgeworfen«, sagte Bridget, stolz auf ihr Wissen.
    »Bomben?«, sagte Sylvie und blickte von ihrem Strickzeug auf. »Über Norfolk? «
    »Ein Zeppelinangriff«, sagte Bridget mit Autorität. »So sind die Hunnen. Ihnen ist es egal, wen sie umbringen. Sie sind böse, das sind sie. Sie fressen belgische Babys.«
    »Also …«, sagte

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