Die Unvollendete: Roman (German Edition)
verausgabter Hugh und schaute auf die Deckenleiste im Schlafzimmer, während er nach dem richtigen Wort suchte. »Lebhaft«, beendete er den Satz endlich.
»Das muss an der vielen frischen Luft liegen«, sagte Sylvie.
Golden und von der Sonne geküsst, dachte sie, als sie voller Wohlbehagen am Einschlafen war, und dann fiel ihr ungebeten Shakespeare ein. Jung Mann und Jungfrau, goldgehaart/Zu Essenskehrers Staub geschart, und plötzlich hatte sie Angst.
»Endlich kommt das Gewitter«, sagte Hugh. »Soll ich das Licht ausschalten?«
Am Sonntag wurden Sylvie und Hugh von einer wehklagenden Pamela aus dem morgendlichen Schlummer gerissen. Sie und Ursula waren vor Aufregung früh erwacht und in den Garten gelaufen, nur um festzustellen, dass die Kaninchen verschwunden waren, lediglich der flauschige Pompom eines winzigen Schwanzes war zurückgeblieben, weiß mit Rot verschmiert.
»Füchse«, sagte Mrs. Glover durchaus zufrieden. »Was habt ihr denn erwartet?«
Januar 1915
H aben Sie die neuesten Nachrichten schon gehört?«, fragte Bridget.
Sylvie seufzte und legte den Brief von Hugh weg, die Seiten so spröde wie totes Laub. Er war erst seit ein paar Monaten an der Front, aber sie konnte sich kaum mehr vorstellen, dass sie mit ihm verheiratet war. Hugh war Hauptmann bei den Ox and Bucks, einem Infanterieregiment. Letzten Sommer war er noch Bankbeamter gewesen. Es war absurd.
Seine Briefe klangen fröhlich und zurückhaltend (die Männer sind wundervoll, sie haben so einen starken Charakter) . Früher hatte er diese Männer beim Namen genannt (»Bert«, »Alfred«, »Wilfred«), doch seit der Schlacht von Ypern waren es einfach nur noch »Männer«, und Sylvie fragte sich, ob Bert und Alfred und Wilfred tot waren. Hugh erwähnte den Tod oder das Sterben nie, es war, als würden sie einen Ausflug machen oder ein Picknick (Diese Woche hat es schrecklich viel geregnet. Überall Schlamm. Hoffentlich habt ihr besseres Wetter als wir!).
»In den Krieg? Du ziehst in den Krieg?«, hatte sie geschrien, als er sich verpflichtete, und ihr ging auf, dass sie ihn nie zuvor angeschrien hatte. Vielleicht hätte sie es tun sollen.
Wenn es Krieg gebe, erklärte ihr Hugh, wolle er nicht zurückblicken und wissen, dass er ihn versäumt habe, dass andere für die Ehre ihres Vaterlandes gekämpft hätten und er nicht. »Vielleicht ist es das einzige Abenteuer, das ich je erleben werde«, sagte er.
»Abenteuer?«, wiederholte sie ungläubig. »Was ist mit deinen Kindern, deiner Frau? «
»Aber für euch tue ich es doch«, sagte er und blickte ausnehmend gekränkt drein, ein missverstandener Theseus. In diesem Moment konnte Sylvie ihn nicht ausstehen. »Um Heim und Herd zu beschützen«, fuhr er fort. »Um zu verteidigen, woran wir glauben.«
»Und doch habe ich das Wort Abenteuer gehört«, sagte Sylvie und kehrte ihm den Rücken.
Nichtsdestotrotz war sie selbstverständlich nach London gefahren, um ihn zu verabschieden. Sie wurden herumgestoßen von einer riesigen, fahnenschwenkenden Menschenmenge, die jubelte, als hätten sie bereits einen großen Sieg errungen. Sylvie staunte über den tollwütigen Patriotismus der Frauen auf dem Bahnsteig. Sollte der Krieg nicht aus allen Frauen Pazifistinnen machen?
Hugh zog sie an sich, als wären sie frisch verliebt, und sprang erst im allerletzten Augenblick auf den Zug. Er tauchte sofort im Gewühl uniformierter Männer unter. Sein Regiment, dachte sie. Wie merkwürdig. Wie alle anderen hatte er törichterweise ungeheuer fröhlich gewirkt.
Als der Zug sich langsam in Bewegung setzte, grölten die erregten Menschen begeistert, schwenkten wild die Fahnen, warfen ihre Kappen und Hüte in die Luft. Sylvie starrte blind auf die Abteilfenster, die erst langsam, dann immer schneller an ihr vorbeizogen, bis sie sie nur noch verschwommen wahrnahm. Hugh sah sie nicht, ebenso wenig wie er vermutlich sie sehen konnte.
Sie blieb auch noch auf dem Bahnsteig stehen, nachdem alle anderen gegangen waren, und starrte auf den Punkt am Horizont, an dem der Zug verschwunden war.
Sylvie ließ den Brief liegen und nahm stattdessen ihr Strickzeug.
»Also, haben Sie die neuesten Nachrichten schon gehört?«, fragte Bridget noch einmal. Sie legte das Besteck auf den Tisch. Sylvie runzelte die Stirn über dem Gestrickten und fragte sich, ob sie Nachrichten hören wollte, deren Quelle Bridget war. Sie kettete eine Masche an dem Raglanärmel der zweckdienlichen grauen Strickjacke ab, die sie für Maurice
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