Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson

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an dem dünnen Baumwollvorhang, um ihn nicht sehen zu müssen. Der Vorhang hatte sich hoffnungslos auf dem Draht verhakt, und sie gab auf, bevor sie die ganze Vorrichtung herunterriss. Das Fenster war alt und undicht und ließ einen eisigen Luftzug ins Zimmer.
    Der Strom fiel aus, und sie tastete nach der Kerze auf dem Kaminsims. Konnte es noch schlimmer werden? Ursula trug Kerze und Whiskyflasche zum Bett und legte sich im Mantel unter die Decke. Sie war so müde. Hunger und Kälte verursachten die schrecklichste Lethargie.
    Die Flamme des kleinen Radiant-Ofens flackerte bedenklich. Wäre es so schlimm? Wenn mitternachts sich aller Schmerz verlor. Es gab schlimmere Todesarten. Auschwitz. Treblinka. Teddys Halifax, die brennend abstürzte. Die einzige Möglichkeit, die Tränen einzudämmen, war, den Whisky zu trinken. Die liebe alte Pammy. Die Flamme im Radiant flackerte und erlosch. Ebenso die Zündflamme. Sie fragte sich, wann das Gas wieder angestellt würde. Ob der Geruch sie wecken würde, ob sie aufstehen und den Ofen anzünden würde. Sie hatte nicht damit gerechnet, wie ein Fuchs in seinem Bau zu erfrieren. Pammy würde die Postkarte finden und wissen, dass sie sich über das Paket gefreut hatte. Ursula schloss die Augen. Sie fühlte sich, als hätte sie seit hundert Jahren oder länger nicht mehr geschlafen. Sie war wirklich todmüde.
    Es wurde langsam dunkel.

    Sie erwachte erschrocken. War es Tag? Das Licht brannte, aber draußen war es dunkel. Sie hatte geträumt, sie wäre in einen Keller eingeschlossen. Sie stand auf, sie war noch immer betrunken, und ihr wurde klar, dass das Radio sie geweckt hatte. Der Strom war rechtzeitig für die Seewettervorhersage wieder angestellt worden.
    Sie warf Geld in den Zähler, und der kleine Radiant erwachte zum Leben. Sie hatte sich schließlich doch nicht vergast.

Juni 1967
    A m Morgen hatten die Jordanier das Feuer auf Tel Aviv eröffnet, erklärte der Journalist von der BBC, jetzt bombardierten sie Jerusalem. Er stand auf einer Straße, in Jerusalem vermutlich, sie hatte nicht wirklich aufgepasst, im Hintergrund war Artilleriefeuer zu hören, zu weit entfernt, um eine Bedrohung für ihn darzustellen, doch sein unechter Kampfanzug und sein Reportagestil – aufgeregt, aber ernst – deuteten auf unwahrscheinlichen Heldenmut seinerseits.
    Benjamin Cole war jetzt Abgeordneter im israelischen Parlament. Er hatte am Ende des Krieges mit der Jüdischen Brigade gekämpft und sich dann Lechi, der Stern Gang, in Palästina angeschlossen, um für ein eigenes Land zu kämpfen. Er war ein so aufrechter Junge gewesen, dass sie sich ihn nur schwer als Terroristen hatte vorstellen können.
    Sie hatten sich während des Kriegs einmal für einen Drink getroffen, doch es war eine verlegene Begegnung gewesen. Die romantischen Impulse ihrer Jugend waren seit langem erloschen, wohingegen sich seine frühere Gleichgültigkeit ihr gegenüber als Mitglied des weiblichen Geschlechts in ihr Gegenteil verkehrt hatte. Kaum hatte sie ihren (schwachen) Gin mit Zitronensaft ausgetrunken, als er vorschlug, »irgendwohin zu gehen«.
    Sie war empört. »Sehe ich aus wie eine leichtes Mädchen?«, fragte sie Millie später.
    »Na ja, warum nicht?« Millie zuckte die Achseln. »Wir könnten morgen von einer Bombe getroffen werden. Carpe diem und so weiter.«
    »Das scheint die Ausrede für jede Art von schlechtem Benehmen zu sein«, murrte Ursula. »Wenn die Leute an die ewige Verdammnis glauben würden, dann würden sie nicht gleich jede Gelegenheit beim Schopf packen.« Es war ein schlechter Tag im Büro gewesen. Eins der Mädchen hatte erfahren, dass das Schiff, auf dem ihr Freund diente, versenkt worden war, und wurde hysterisch, zudem ging eine wichtige Akte in dem braungelben Meer verloren, was für mehr Ärger sorgte, wenn auch von anderer Art, deswegen hatte sie die Gelegenheit mit Benjamin Cole nicht ergriffen, obwohl er sie heftig bedrängte. »Ich hatte immer das Gefühl, dass zwischen uns was läuft, du nicht?«, sagte er.
    »Leider zu spät«, sagte sie und nahm Mantel und Tasche. »Vielleicht im nächsten Leben.« Sie dachte an Dr. Kellets Theorien der Wiedergeburt und fragte sich, als was sie zurückkehren wollte. Als Baum. Als schöner großer Baum, der im Wind tanzt.

    Die BBC wandte ihre Aufmerksamkeit der Downing Street zu. Irgendjemand war zurückgetreten. Sie hatte im Büro Gerüchte gehört, sich jedoch nicht die Mühe gemacht, ihnen nachzugehen.
    Sie aß ihr Abendessen –