Die Unvollendete: Roman (German Edition)
verlassen. Sie hätte dann ihren eigenen kleinen Haushalt, eigene Babys.
Laut Sylvie waren Treppen gefährliche Orte. Menschen starben auf Treppen. Sylvie ermahnte sie stets, nicht oben auf der Treppe zu spielen.
Ursula schlich sich auf dem Läufer an. Holte lautlos Luft und warf sich dann, beide Hände ausgestreckt, als wollte sie einen Zug aufhalten, gegen Bridgets Rücken. Bridget drehte rasch den Kopf, Mund und Augen aufgerissen vor Entsetzen beim Anblick von Ursula. Bridget flog, purzelte die Treppe hinunter in einem wilden Durcheinander von Armen und Beinen. Ursula konnte gerade noch bremsen, um ihr nicht zu folgen.
Übung macht den Meister.
»Der Arm ist bedauerlicherweise gebrochen«, sagte Dr. Fellowes. »Das war ein ganz schöner Sturz die Treppe hinunter.«
»Sie war schon immer ungeschickt«, sagte Mrs. Glover.
» Jemand hat mich gestoßen«, sagte Bridget. Auf ihrer Stirn erblühte ein großer blauer Fleck. Sie hielt den Hut in der Hand, die Veilchen zerdrückt.
»Jemand?«, sagte Sylvie. »Wer? Wer sollte dich die Treppe hinunterstoßen, Bridget?« Sie blickte zu den Gesichtern in der Küche. »Teddy?« Teddy schlug die Hand vor den Mund, als wollte er verhindern, dass Worte daraus entfleuchten. Sylvie schaute zu Pamela. »Pamela?«
»Ich?«, sagte Pamela und legte fromm und entrüstet wie eine Märtyrerin beide Hände auf ihr Herz.
Sylvie blickte zu Bridget, die kaum merklich den Kopf Richtung Ursula neigte.
»Ursula?« Sylvie runzelte die Stirn. Ursula starrte ausdruckslos vor sich hin, ein Kriegsdienstverweigerer, der gleich erschossen würde. »Ursula«, sagte Sylvie streng, »weißt du etwas davon?«
Ursula hatte etwas Gemeines getan, sie hatte Bridget die Treppe hinuntergestoßen. Bridget hätte sterben können, und dann wäre sie jetzt eine Mörderin. Sie wusste nur, dass sie es hatte tun müssen. Das überwältigende Gefühl großer Angst war über sie gekommen, und sie hatte es tun müssen.
Sie lief aus dem Zimmer und versteckte sich an einem von Teddys geheimen Orten, dem Schrank unter der Treppe. Nach einer Weile wurde die Tür geöffnet und Teddy kroch herein und setzte sich neben sie auf den Boden. »Ich glaube nicht, dass du Bridget gestoßen hast«, sagte er und legte seine kleine warme Hand auf ihre.
»Danke. Aber ich hab’s getan.«
»Ich mag dich trotzdem noch.«
Sie wäre vielleicht nie wieder aus dem Schrank herausgekommen, aber es klingelte an der Vordertür, und im Flur herrschte plötzlich helle Aufregung. Teddy öffnete die Tür, um nachzusehen, was los war. Er zog den Kopf wieder ein und berichtete: »Mummy küsst einen Mann. Sie weint. Er weint auch.« Ursula steckte den Kopf aus dem Schrank, um dieses Phänomen in Augenschein zu nehmen. Erstaunt wandte sie sich an Teddy. »Ich glaube, das ist Daddy«, sagte sie.
Frieden
Februar 1947
U rsula überquerte vorsichtig die Straße. Der Belag war tückisch – wellig und von Furchen und Spalten voller Eis durchzogen. Die Gehwege waren noch gefährlicher, Massive aus schmutzigem, gefrorenem Schnee oder, schlimmer noch, Rodelbahnen, angelegt von Kindern aus dem Viertel, die nichts Besseres zu tun hatten, als sich zu vergnügen, weil die Schulen geschlossen waren. O Gott, dachte Ursula, wie engstirnig ich doch geworden bin. Der verdammte Krieg. Der verdammte Frieden.
Als sie endlich den Schlüssel ins Schloss der Haustür steckte, war sie erschöpft. Nie zuvor war ein Gang zum Einkaufen so eine Herausforderung gewesen, nicht einmal während der schlimmsten Tage des »Blitz«. Die Haut in ihrem Gesicht war von dem beißenden Wind aufgerauht, ihre Zehen waren vor Kälte taub. Seit Wochen hatte es unter null Grad, es war kälter als 1941. Ursula glaubte nicht, dass sie sich irgendwann in der Zukunft an diese eisige Kälte würde erinnern, sie würde heraufbeschwören können. Sie war so körperlich, sie hätte sich nicht gewundert, wenn Knochen gesplittert und Haut gerissen wären. Gestern hatte sie gesehen, wie zwei Männer versucht hatten, ein Einstiegsloch in der Straße mit einem Flammenwerfer zu öffnen. Vielleicht gäbe es keine aufgetaute, warme Zukunft, vielleicht war das der Beginn einer neuen Eiszeit. Erst Feuer, dann Eis.
Nur gut, dachte sie, dass der Krieg ihr jede Sorge um eine modische Erscheinung ausgetrieben hatte. Sie trug der Reihe nach von innen nach außen – ein kurzärmliges Unterhemd, ein langärmliges Unterhemd, einen langärmligen Pullover, eine Strickjacke, und darüber spannte sich ihr
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