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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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des Betts und hob Ursula aus der Wiege. Und dann glaubte sie in der schneegedämpften Stille plötzlich das leise Wiehern eines Pferdes zu hören und verspürte angesichts dieses unwahrscheinlichen Lauts eine kleine elektrische Freude in ihrer Seele. Sie ging mit Ursula im Arm zum Fenster und zog einen der schweren Vorhänge so weit zurück, dass sie hinausschauen konnte. Der Schnee hatte alles Vertraute zugedeckt, die Welt draußen in Weiß gekleidet. Und dort unten sah sie die phantastische Gestalt von George Glover, der ohne Sattel auf einem seiner schönen Shires (Nelson, wenn sie sich nicht irrte) den winterlichen Weg entlangritt. Er sah großartig aus, wie ein Held aus alten Zeiten. Sylvie zog den Vorhang wieder zu und entschied, dass die Mühsal der Nacht wahrscheinlich ihr Gehirn in Mitleidenschaft gezogen hatte und sie halluzinieren ließ.
    Sie nahm Ursula mit ins Bett, und das Baby suchte nach der Brustwarze. Sylvie stillte ihre Kinder aus Überzeugung. Glasflaschen und Gummischnuller erschienen ihr irgendwie unnatürlich, aber das hieß nicht, dass sie sich nicht wie eine Kuh fühlte, die gemolken wurde. Das Baby war langsam und mühte sich ab, verwirrt von dieser neuen Regelung. Wie lange war es noch bis zum Frühstück?, fragte sich Sylvie.

Waffenstillstand
    11. November 1918
    L iebe Bridget, ich habe die Tür zugesperrt und verriegelt. Eine Bande Diebe  – nur ein »i« oder auch ein »e«? Ursula kaute auf dem Ende des Bleistifts herum, bis er splitterte. Unentschlossen strich sie das »Diebe« durch und schrieb stattdessen »Räuber«. Eine Bande Räuber ist im Dorf. Kannst du bitte bei Clarence’ Mutter bleiben? Zur Sicherheit fügte sie hinzu: Und ich habe Kopfweh, klopf also nicht. Sie unterschrieb mit Mrs. Todd. Ursula wartete, bis niemand mehr in der Küche war, ging hinaus und befestigte den Zettel an der Hintertür.
    »Was machst du denn?«, fragte Mrs. Glover, als sie wieder hereinkam. Ursula erschrak, Mrs. Glover konnte sich so lautlos wie eine Katze bewegen.
    »Nichts«, sagte Ursula. »Ich habe geschaut, ob Bridget schon kommt.«
    »Ach, du meine Güte«, sagte Mrs. Glover, »sie wird erst in ein paar Stunden mit dem letzten Zug kommen. Jetzt troll dich, du solltest längst im Bett liegen. Wir sind hier nicht in Liberty Hall.«
    Ursula wusste nicht, was Liberty Hall war, aber es klang wie ein guter Ort zum Leben.

    Am nächsten Morgen war keine Bridget im Haus. Und rätselhafterweise war auch Pamela verschwunden. Ursula war überwältigt vor Erleichterung, die so unerklärlich war wie die Panik, die sie am Abend zuvor veranlasst hatte, den Zettel zu schreiben.
    »An der Tür hat ein alberner Zettel geklebt, ein Scherz«, sagte Sylvie. »Bridget war ausgesperrt. Das sieht ganz nach deiner Handschrift aus, Ursula. Ich nehme an, dass du das erklären kannst?«
    »Nein, kann ich nicht«, sagte Ursula mannhaft.
    »Ich habe Pamela zu Mrs. Dodds geschickt, um Bridget zu holen«, sagte Sylvie.
    »Du hast Pamela geschickt?«, sagte Ursula entsetzt.
    »Ja, Pamela.«
    »Pamela ist bei Bridget? «
    »Ja«, sagte Sylvie. »Bei Bridget. Was ist los mit dir?«
    Ursula rannte aus dem Haus. Sie hörte, wie Sylvie ihr etwas nachrief, blieb jedoch nicht stehen. In ihren ganzen acht Jahren war sie noch nie so schnell gerannt, noch nicht einmal, als Maurice sie jagte, um ihr Brennnesseln zu machen. Sie lief die Straße entlang zu Mrs. Dodds’ Häuschen, ungeachtet der Schlammpfützen, so dass sie von Kopf bis Fuß verdreckt war, als Pamela und Bridget in Sichtweite waren.
    »Was ist los?«, fragte Pamela ängstlich. »Ist was mit Daddy?« Bridget bekreuzigte sich. Ursula schlang die Arme um Pamela und brach in Tränen aus.
    »Was ist bloß los? Sag schon«, sagte Pamela, die jetzt auch in den Sog des Entsetzens geriet.
    »Ich weiß nicht«, schluchzte Ursula. »Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht.«
    »Was für eine dumme Gans du doch bist«, sagte Pamela liebevoll und drückte sie an sich.
    »Ich hab ein bisschen Kopfweh«, sagte Bridget. »Gehen wir nach Hause.«

    Und bald wurde es wieder dunkel.

Schnee
    11. Februar 1910
    E in Wunder, sagt Fellowes«, erklärte Bridget Mrs. Glover, als sie mit ihrem morgendlichen Tee auf die Geburt des neuen Babys anstießen. Was Mrs. Glover anbelangte, gehörten Wunder in die Bibel und nicht zu dem Blutbad einer Geburt. »Vielleicht sind ihr drei genug«, sagte sie.
    »Aber warum sollte sie bei drei aufhören, wo sie so hübsche, gesunde Kinder kriegt

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