Die Unvollendete: Roman (German Edition)
notwendig, es zu wissen. Man musste Zeugnis ablegen. (Sie hörte Miss Woolfs Stimme: Wir dürfen diese Menschen nicht vergessen, wenn wir in einer sicheren Zukunft leben. )
Die Toten zu beziffern war während des Kriegs ihre Aufgabe gewesen, der endlose Strom von Zahlen, die die Toten des »Blitz« und der Bomben repräsentierten, war über ihren Schreibtisch geflossen, um von ihr geordnet und festgehalten zu werden. Die Zahlen waren überwältigend gewesen, doch die noch höheren Zahlen – die sechs Millionen Toten, die fünfzig Millionen Toten, die nicht zählbare Unendlichkeit an Seelen – waren nicht zu verstehen.
Ursula hatte gestern Wasser geholt. Sie – wer waren »sie«? Nach sechs Jahren Krieg hatten sich alle daran gewöhnt, »ihre« Befehle zu befolgen, was für ein gehorsames Volk die Engländer doch waren –, sie hatten eine Wasserpumpe in der nächsten Straße installiert, und Ursula hatte einen Wasserkessel und einen Eimer gefüllt. Die Frau vor ihr in der Schlange sah in einem beneidenswerten, bodenlangen silbergrauen Zobelmantel schrecklich schick aus, und doch wartete sie geduldig mit ihren Eimern in der bitteren Kälte. Sie sah fehl am Platz in Soho aus, aber wer kannte schon ihre Geschichte?
Die Frauen am Brunnen. Ursula meinte sich zu erinnern, dass Jesus eine besonders konfliktreiche Unterhaltung mit einer Frau am Brunnen geführt hatte. Eine Frau aus Samaria – natürlich hatte sie keinen Namen. Sie hatte fünf Ehemänner gehabt, erinnerte sich Ursula, und lebte mit einem Mann zusammen, mit dem sie nicht verheiratet war, aber in der Bibel stand nicht, was mit ihren fünf Ehemännern passiert war. Vielleicht hatte sie den Brunnen vergiftet.
Bridget hatte ihnen erzählt, dass sie als Kind in Irland jeden Tag zum Brunnen hatte gehen müssen, um Wasser zu holen. So viel zum Fortschritt. Wie schnell sich die Zivilisation in ihre hässlicheren Elemente auflösen konnte. Die Deutschen zum Beispiel, das gebildetste und kultivierteste Volk, und doch … Auschwitz, Treblinka, Bergen-Belsen. Unter den gleichen Umständen hätten es genauso gut die Engländer sein können, aber auch das durfte man nicht sagen. Miss Woolf hatte es geglaubt, sie hatte gesagt –
»Hören Sie«, sagte die Frau im Zobel und unterbrach ihren Gedankengang. »Können Sie mir erklären, warum das Wasser in meinem Haus gefroren ist, dieses hier aber nicht?« Sie sprach mit einem geschliffenen Oberschichtenakzent.
»Das weiß ich nicht«, sagte Ursula. »Ich weiß nichts.« Die Frau lachte und sagte: »Oh, mir geht es genauso, glauben Sie mir«, und Ursula dachte, dass sie vielleicht jemand war, den sie gern zur Freundin hätte, aber dann sagte eine Frau hinter ihnen: »Bitte weitergehen, meine Liebe«, und die Frau im Zobel hob stramm wie eine Frau vom landwirtschaftlichen Hilfsdienst ihre Eimer an und sagte: »Ich muss los, tschüss.«
Sie schaltete das Radio ein. Die Ausstrahlung des Dritten Programms der BBC war im Moment ausgesetzt. Der Krieg gegen das Wetter. Man konnte von Glück reden, wenn man BBC Home oder Light hören konnte, es gab so viele Stromausfälle. Sie brauchte Geräusche, den Klang eines vertrauten Lebens. Jimmy hatte ihr sein altes Grammophon mitgebracht, ihres und leider auch die meisten ihrer Schallplatten waren in Kensington draufgegangen. Ein paar Platten, die wundersamerweise nicht zerbrochen waren, hatte sie retten können, und eine davon legte sie jetzt auf. »I’d Rather Be Dead and Buried in My Grave.« Ursula musste lachen. »Lustig, oder was?«, sagte sie laut. Sie horchte auf das Kratzen und Rauschen der alten Platte. Fühlte sie sich so?
Sie blickte auf die Uhr, Sylvies kleine goldene Reiseuhr. Sie hatte sie nach der Beerdigung mitgenommen. Es war erst vier Uhr. Du lieber Gott, wie sich die Zeit hinzog. Sie hörte plötzlich das Zeitzeichen und schaltete die Nachrichten aus. Wozu sich die Mühe machen?
Um irgendetwas zu tun, um ihrer mönchischen Zelle von einem möblierten Zimmer zu entkommen, war sie am Nachmittag die Oxford Street und die Regent Street entlanggegangen. In allen Geschäften war es dämmrig und trist. Petroleumlampen in Swan and Edgar, Kerzen in Selfridge – abgehärmte, schattige Gesichter wie auf den Gemälden von Goya. Es gab nichts zu kaufen, nichts, was sie wollte jedenfalls, und alles, was sie wollte, ein hübsches, bequemes Paar Stiefel mit Pelzbesatz zum Beispiel, war unerhört teuer (fünfzehn Guineen!). Deprimierend. »Schlimmer als im Krieg«,
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