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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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hatte, da die Erde so hart wie Eisen war.
    Als sie die Tür öffnete, sah sie einen Zettel auf dem Boden. Sie musste die Brille aufsetzen, um ihn zu lesen. Es war eine Nachricht von Bea Shawcross. Habe vorbeigeschaut, aber du warst nicht da. Komme wieder. Gruß & Kuss, Bea. Ursula bedauerte, Beas Besuch verpasst zu haben, es wäre eine nettere Art gewesen, den Samstagnachmittag zu verbringen, als im dystopischen West End herumzulaufen. Sie freute sich riesig über den Anblick des Wirsings. Doch dann grub der Wirsing – unerwartet wie üblich in diesen Momenten – eine unangenehme Erinnerung an das Päckchen im Keller in der Argyll Street aus, und sie versank erneut in Trübsinn. Dieser Tage litt sie ständig unter Stimmungsschwankungen. Ehrlich, schalt sie sich, reiß dich um Himmels willen zusammen.
    In der Wohnung schien es kälter als draußen. Sie hatte Frostbeulen, schreckliche schmerzhafte Dinger. Sogar ihre Ohren waren kalt. Sie wünschte, sie hätte Ohrenschützer oder eine Wollmütze wie die grauen Mützen, die Teddy und Jimmy während der Schulzeit getragen hatten. Da war eine Zeile in »Der St.-Agnes-Abend«, wie lautete sie noch mal? Irgendwas von den steinernen Statuen in der Kirche, wie sie in Hauben, Panzern Schmerz wohl plagt. Jedes Mal, wenn sie es vorgetragen hatte, hatte sie geschaudert. Ursula hatte das Gedicht in der Schule auswendig gelernt, eine Gedächtnisleistung, die ihr heute wohl nicht mehr gelingen würde, und worin hatte bitte schön der Sinn davon bestanden, wenn sie heute nicht einmal mehr eine ganze Zeile wusste? Sie sehnte sich plötzlich nach Sylvies Pelzmantel, einem vernachlässigten Nerz, der wie ein großes freundliches Tier war und jetzt Pamela gehörte. Sylvie hatte sich am Tag der Kapitulation für den Tod entschieden. Während andere Frauen Essen für Teegesellschaften zusammenkratzten und in den Straßen Britanniens tanzten, legte sich Sylvie auf das Bett, in dem Teddy als Kind geschlafen hatte, und schluckte ein Fläschchen Schlaftabletten. Sie hinterließ keinen Abschiedsbrief, aber ihre Absicht und ihr Motiv waren der Familie klar gewesen. Es gab einen schrecklichen Leichenschmaus in Fox Corner. Pamela sagte, dass es feige gewesen sei, aber Ursula war sich da nicht so sicher. Sie glaubte vielmehr, dass es Beweis für eine bewundernswert klare Zielsetzung gewesen sei. Sylvie war ein weiteres Kriegsopfer, in einer anderen Statistik.
    »Weißt du«, sagte Pamela, »ich habe immer mit ihr gestritten, weil sie behauptet hat, dass die Wissenschaft die Welt schlechter macht, dass es dabei nur um Männer geht, die neue Möglichkeiten erfinden, sich gegenseitig umzubringen. Aber mittlerweile frage ich mich, ob sie nicht recht hatte.« Das war natürlich vor Hiroshima.
    Ursula zündete den Gasofen an, ein erbärmlicher kleiner Radiator, der aussah, als stammte er aus der Zeit der Jahrhundertwende, und steckte Geld in die Gasuhr. Gerüchte sagten, dass es bald keine Pennys und Schillinge mehr gäbe. Ursula fragte sich, warum sie nicht Waffen einschmolzen. Schwerter zu Pflugscharen und so weiter.
    Sie packte Pammys Kiste aus und legte alles auf die kleine hölzerne Ablauffläche, wie das Stillleben eines armen Menschen. Das Gemüse war schmutzig, aber es bestand wenig Hoffnung, die Erde abwaschen zu können, da die Leitungen gefroren waren, sogar in dem kleinen Boiler, und außerdem war der Gasdruck so niedrig, dass das Wasser kaum warm genug würde. Wasser wie Stein. Auf dem Boden der Kiste fand sie eine Halbliterflasche Whisky. Die gute alte Pammy, immer aufmerksam.
    Sie schöpfte Wasser aus dem Eimer, den sie an der Pumpe auf der Straße gefüllt hatte, in einen Topf und stellte ihn auf den Gasring, weil sie ein Ei kochen wollte, auch wenn es ewig dauern würde, weil nur ein winziger blauer Flammenkreis den Brenner umgab. Es wurde gemahnt, den Gasdruck im Auge zu behalten – für den Fall, dass das Gas weiter ausströmte, wenn die Zündflamme erloschen war.
    Wäre es so schlimm, sich mit Gas zu vergiften?, fragte sich Ursula. Vergast. Sie dachte an Auschwitz. Treblinka. Jimmy war bei einer Kommandotruppe gewesen, und gegen Ende des Krieges war er, laut eigener Aussage eher zufällig (aber alles, was mit Jimmy zu tun hatte, war etwas zufällig), dem Panzerabwehrregiment zugeteilt worden, das Bergen-Belsen befreite. Ursula bestand darauf, dass er ihr erzählte, was er dort vorgefunden hatte. Er tat es nicht gern und behielt das Schlimmste wahrscheinlich für sich, doch es war

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