Die Unvollendete: Roman (German Edition)
schäbiger alter Wintermantel, zwei Jahre vor dem Krieg bei Peter Robinson neu gekauft. Ganz zu schweigen natürlich von der gewöhnlichen tristen Unterwäsche, einem dicken Tweedrock, grauen Wollstrümpfen, Fingerhandschuhen und Fäustlingen, einem Schal, einem Hut und den alten, pelzgefütterten Stiefeln ihrer Mutter. Der Mann, der sich plötzlich genötigt sah, sie zu vergewaltigen, war nur zu bedauern. »Schön wär’s, was?«, sagte Enid Barker, eine der Sekretärinnen, bei einer Kanne Tee, die Balsam und Beistand zugleich war. Enid hatte um 1940 für die Rolle der beherzten jungen Londonerin vorgesprochen und spielte sie seitdem mit Begeisterung. Ursula schalt sich für diese weiteren unfreundlichen Gedanken. Enid gehörte zu den Guten. Und war schrecklich geschickt darin, Tabellen zu tippen, was Ursula auf der Sekretärinnenschule nie wirklich kapiert hatte. Sie hatte einen Schreibmaschinen- und Stenographiekurs belegt, vor Jahren – alles, was vor dem Krieg passiert war, wirkte jetzt wie Frühgeschichte (ihre eigene). Sie war überraschend versiert gewesen. Mr. Carver, der Leiter der Schule, hatte gemeint, dass ihr Steno gut genug war, um sich als Gerichtsstenographin für Old Bailey ausbilden zu lassen. Das wäre ein ganz anderes Leben gewesen, vielleicht ein besseres. Das konnte man selbstverständlich nicht wissen.
Sie stapfte das unbeleuchtete Treppenhaus zu ihrer Wohnung hinauf. Sie lebte jetzt allein. Millie hatte einen amerikanischen Luftwaffenoffizier geheiratet und war in den Staat New York gezogen (»Ich – eine Kriegsbraut! Wer hätte das gedacht?«). Eine dünne Schicht Ruß und Fett bedeckte die Wände des Treppenhauses. Das Gebäude war alt und befand sich ausgerechnet in Soho (»Not kennt kein Gebot«, hörte sie ihre Mutter sagen). Die Frau, die über ihr wohnte, hatte häufig Herrenbesuch, und Ursula hatte sich an das Quietschen der Sprungfedern und die seltsamen Geräusche gewöhnt, die sie durch die Decke hörte. Aber sie war eine sympathische Frau, grüßte immer gut gelaunt und versäumte nie, die Treppe zu putzen, wenn sie an der Reihe war.
In seiner Verwahrlosung hatte das Gebäude von Anfang an wie aus einem Roman von Dickens ausgesehen, und jetzt wirkte es noch vernachlässigter und ungeliebter. Andererseits sah ganz London heruntergekommen aus. Schmutzig und schäbig. Sie erinnerte sich, dass Miss Woolf gesagt hatte, sie könne sich nicht vorstellen, dass das »arme alte London« jemals wieder sauber würde. (»Es ist alles so schrecklich verlottert. «) Vielleicht hatte sie recht.
»Man möchte nicht glauben, dass wir den Krieg gewonnen haben«, hatte Jimmy gesagt, als er sie besuchte. Er sah aus wie ein Gauner in seinen amerikanischen Kleidern, deren Glanz und Sauberkeit vielversprechend waren. Sie vergab ihrem kleinen Bruder sofort seinen amerikanischen Elan, der Krieg war hart für ihn gewesen. Aber galt das nicht für alle? »Einen langen und harten Krieg«, hatte Churchill angekündigt. Wie zutreffend das gewesen war.
Es war eine temporäre Unterkunft. Sie hatte genügend Geld für etwas Besseres, aber tatsächlich war es ihr gleichgültig. Es war nur ein Zimmer, ein Fenster über der Spüle, ein Boiler, eine Gemeinschaftstoilette auf dem Flur. Ursula vermisste noch immer die alte Wohnung in Kensington, in der sie mit Millie gewohnt hatte. Sie waren bei dem großen Luftangriff im Mai 41 ausgebombt worden. Ursula hatte an Bessie Smith gedacht, wie sie Wie ein Fuchs ohne Bau sang, aber sie war für ein paar Wochen wieder eingezogen und hatte ohne Dach dort gelebt. Es war kalt gewesen, aber sie war das Zelten gewohnt. Sie hatte es beim Bund Deutscher Mädel gelernt, eine Tatsache, die man in diesen dunklen Tagen besser für sich behielt.
Eine freudige Überraschung erwartete sie. Ein Geschenk von Pammy – eine Holzkiste gefüllt mit Kartoffeln, Lauch, Zwiebeln, einem riesigen smaragdgrünen Wirsing (etwas von großer Schönheit) und darauf ein halbes Dutzend Eier, in Watte verpackt in einem alten Hut von Hugh. Wunderschöne Eier, braun und gefleckt, so wertvoll wie ungeschliffene Edelsteine, hier und da klebten winzige Federn daran. Liebe Grüße aus Fox Corner stand auf dem Zettel, der an der Kiste hing. Es war, als hätte sie ein Paket vom Roten Kreuz erhalten. Wie um alles in der Welt war die Kiste hierhergelangt? Es fuhren keine Züge, und Pamela war mit großer Sicherheit eingeschneit. Noch rätselhafter war, wie ihre Schwester diese winterliche Ernte eingebracht
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